Das Leiden der 2.0-Reporter – 2018 wird alles besser…

Lüneburg, 31. Dezember 2017

Im abgelaufenen Jahr haben die Journalisten der Generation 2.0 wieder besonders gelitten, wie begossene Pudel an ihrer Bestimmung gezweifelt. Fake-News-Debatten allerorten, Glaubwürdigkeitsschwund, Liebesentzug durch Leser. Das setzt zu. Dicke Hose war gestern. Der Journalist 2.0 will wieder zuhören, ja moderieren, den Bürgerdialog führen.

Dabei sind die Rezepte so einfach für einen geraden Rücken: Berichten statt richten, Sorgfalt statt Schnelligkeit. All the news that’s fit to print, der New-York-Times-Slogan. An guten Vorsätzen mangelt es Journalisten also nie, aber wie das so ist mit guten Vorsätzen: ab in den Wind.

Neu in der Nabelschau ist das Flagellantentum unter Reportern. Auf jede Verfehlung folgt eine zumindest medien-interne Geißelung in den Blogs und Fachmedien. Der Generalbass der Journalisten des 21. Jahrhunderts klingt wie die unstillbare Sehnsucht nach den alten Tugenden. Nicht ohne Grund.

Der erste Fauxpas war gleich der Millenium-Bug zur Jahrtausendwende. Wochenlang wurde vom Totalausfall der Computer und der digitalen Apokalypse berichtet, die sich als nachrichtlicher Totalausfall erwies.

Kaum erholt, verschliefen die Journalisten die globale Finanzkrise. Der Weckruf kam erst, als auch die eigenen Aktien im freien Fall waren. Der Jammer war groß.

Geradezu verkniffen jagten Reporter Bundespräsidenten Christian Wulff. Der hatte sich selber in Schieflage gebracht. Aber im Laufe der Berichterstattung wurden auch Petitessen wie ein Bobbycar für Wulffs Sohn zur Staatsaffäre, da wurden einem Präsidenten Ultimaten gestellt. Als er endlich zur Strecke gebracht war, kam der Kater. Da war der saubere Journalismus zur Treibjagd verkommen.

Der jüngste Fall für Karthasis ist die AfD, oder besser der Anhänger. Wie wurde die Partei verteufelt, bis die Schreiber nach dem Wahlerfolg konsterniert feststellten, dass sie Steilvorlagen für die Wählerstimmen sichernde Opferrolle geliefert hatten. Künftig will man die Parteigänger ernster nehmen und nicht gleich die Nazi-Keule schwingen.

Bei diesen ständigen Kurskorrektur könnte der Verdacht aufkommen, Willi Wichtig habe seinen Kompass verloren. Da hilft nur Egon Erwin Kisch, der 1924 für seinen „Rasenden Reporter“ wusste:

„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt, als die Zeit, in der man lebt.“

Das ist der Stoff, aus dem gute Geschichten für Leser sind. Und 2018, das nehmen wir uns fest vor, handeln wir auch wieder danach.

Hans-Herbert Jenckel

Über jj

Journalist, Dipl.-Kaufmann, Moderator, Lünebug- und Elbtalaue-Liebhaber
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47 Antworten zu Das Leiden der 2.0-Reporter – 2018 wird alles besser…

  1. Marc Rath schreibt:

    Lieber Herr Schnell,
    zunächst einmal entschuldigen Sie bitte die späte Antwort – ich bin nach den ersten Tagen noch nicht auf allen Infokanälen zu Hause.
    Ich habe die AfD in Sachsen-Anhalt in dern vergangenen Jahren intensiv beobachtet. Dort gibt es Menschen, die früher in der „Dregger-CDU“, heute „Berliner Kreis“ o-ä. durchaus ihre politische Heimat sähen, wenn die Partei in ihrer Mehrheit so ausgerichtet ist. Diese Strömung wollte ich mit „nationalkonservative Linie“ skizzieren. Hier gibt es schon deutliche Unterschiede zum Höcke-Flügel.
    Ich hoffe, es ist so ein wenig präziser.
    Beste Grüße
    Marc Rath

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    • Daniel schreibt:

      Hallo Herr Rath,

      ich bin zwar nicht angesprochen, würde aber trotzdem gerne von Ihnen wissen, ob Sie nicht die gesamte Partei unnötig aufwerten, wenn Sie deren vermeintlich „gemäßigteren Teil“ teminologisch als „nationalkonservative Linie“ aufhübschen? So wie ich das sehe, haben wir mit der AfD eine politische Organisation, deren „prominente“ Figuren ausnahmslos alle auf „Aufmerksamkeitsmanagement“ durch das Propagieren von rassistischen, ethno-autoritären, antiliberalen, antipluralistischen, demokratiefeindlichen sowie bewusst inhumanen, Gruppen- und Einzelmenschen (Noah Becker, Jérôme Boateng, Claudia Roth, Aydan Özoguz, etc.) ruchlos stigmatisierenden und verächtlich machenden Parolen setzen. Das ist die Führung! Die nach außen, aber vor allem nach innen einflussstarke, ja, „prägende“ und Sprachregelungen verbindlich machende „Parteielite“ ist eine demagogisch hetzende Gruppe von überzeugten „Gesinnungstätern“. Wir haben auch Extremisten in anderen Parteien. Bei den Grünen, in der SPD, in der CDU, in der CSU und bei den Linken. Aber in allen diesen Parteien waren und sind die Fundamentalisten und Radikalen mehr oder weniger prominente Randfiguren, Außenseiter. Nur bei der AfD bilden sie das Zentrum. Darum weiß JEDER, der da mitmacht, was er zu erwarten hat und was von ihm erwartet wird. Die ideologische Konformität und Homogenität ist wesentlich höher als in irgendeiner anderen im politischen Leben relevanten Partei. Ich halte Ihre feinsinnigen Unterscheidungen für gefährlich, weil Sie den essentiell und integral destruktiven Charakter dieser „Bewegung“ verdecken oder sogar verharmlosen. Ich glaube, wenn man über die AfD schreibt, braucht man nicht auf Biegen und Brechen die zarten Merkmale des Anstands zu suchen bzw. hineinzudeuten. Wer sich in schlechte Gesellschaft begibt, ist selbst Teil dieser schlechten Gesellschaft. Das gilt m. E. für alle AfD-Wähler und erst Recht für alle AfD-Mitglieder.

      Was sagen Sie?

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      • Marc Rath schreibt:

        Lieber Daniel,
        die AfD ist einst als „Professorenpartei“ gestartet, anfangs sogar mit dem Versuch, mit den Freien Wählern zusammenzugehen. Insofern ist die Frage, wer da wen übernommen oder sich eingeschlichen hat, eine interessante. Die von Ihnen skizzierten Strömungen gibt es in dieser Partei. Ob sie sich dauerhaft durchsetzen oder doch der Gründerflügel – da bin ich dann wieder beim Ausgangspunkt meiner Kommentarformulierung.
        Neben den Parteimitgliedern ist natürlich auch die Wählerschaft interessant – in ihrer Ausprägung wie in ihrer Menge. Fakt ist, dass es die AfD vermocht hat, Menschen zur Wahlurne zu bringen, die lange nicht mehr gewählt haben. Das ist auch ein Zustand unserer Demokratie.
        Ich glaube, wir Medien haben da einen Teil zu beigetragen – auch durch die Art der Berichterstattung über die AfD.

        Mit besten Grüßen
        Marc Rath

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    • Daniel schreibt:

      Vielen Dank für die postwendende Reaktion,

      was „den Gründerflügel“ angeht, der auch schon dubios genug war, habe ich keinerlei Hoffnung. Der ist im Juli 2015 auf und nach dem Parteitag in Essen ausgemustert worden. Jetzt haben wir eine „rechte Bewegung“, die nur noch eine Richtung kennt: Eskalation. Die Zerstörung von Faktenvertrauen und die Behauptung der eigenen „erlösenden“ Sendung. Trump ist nur das extremste Vorbild. In diese Richtung wird die Reise gehen. Das begründet die überwältigend wichtige Rolle vertrauenswürdiger Medien. (Wenn z. B. nicht unverzüglich aufgeklärt wird, wie der ChatScreenshot aus Ihrem Haus in die CDU-Zentrale gelangte, wird der Leser-Kredit der LZ ins Bodenlose stürzen.) Ein zweites Problem: Wir alle lieben das Märchen, in dem es nur ein Kind braucht, um die Wahrheit über des Kaisers neue Kleider kundzutun. Aber bei Hans Christian Andersen ist die Prämisse, dass alle das Kind hören können. In den extrem politisch zerklüfteten Öffentlichkeiten des digitalen Zeitalters verhallt das Wort aus Kindermund oftmals unbeachtet (wobei natürlich manche Bürger den Kaiser auch noch nackt super finden würden). Widerstand gegen den hochschäumenden elitär-autoritativen Primitivismus ist nicht zwecklos. Aber die strukturellen Probleme unserer Demokratie machen ihn natürlich schwieriger, als die linksliberale Empörungskultur in ihren Echokammern suggeriert: Die Rolle des Geldes und der Kick-Back-Geschäfte in Wahlkämpfen, welche gestandene Politiker zu Bittstellern bei Milliardären degradiert, die zunehmende Zahl rechter Medien, welche Populismus und Polarisierung auch in Deutschland zum „Big Business“ machen möchten, die ratlose Feigheit der Verantwortlichen in den Unionsparteien etc. Die Nicht-Wähler mobilisieren zu können ist ein wichtiger Punkt. Das würde aber auch anderen gelingen, wenn sie nur Mut zum Profil, zu Prinzipien und zu unveräußerlichen Überzeugungen fänden – und Mut dafür zu streiten, Mut zur Kontroverse zeigten und nicht versuchten, jedem alles recht zu machen. Ja, und selbstverständlich auch die Medien, vor allem die Zeitungen, sollten Mut zum Analysieren, zum Differenzieren und zum Meinunghaben, zum Orientieren, zum Klarstellen, zum Widersprechen und vor allem zum – ausnahmslosen – Ehrlichsein haben und bewahren. Es gibt nicht nur „alternative Fakten“! Es gibt Wahrheit!

      Und: Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar!

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      • Marc Razj schreibt:

        Der besagte Chat kam ausgedruckt und anonym ins Postfach der LZ. Wir haben dann das gemacht, was Journalisten bei anonymen Quellen, die Brisantes enthalten, tun -, und haben sie verifiziert. Den Rest kennen sie. Beste Grüße Marc Rath

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    • Daniel schreibt:

      Herrn Jenckel zufolge gab es, ich zitiere: „Papiere […], die einem [sic] von [sic] Informanten auch zugespielt wurden, über die aber gar nicht geschrieben wird, die nur zur Absicherung dienen, die teils unglaubliche Details beinhalten, die so persönlich sind, dass Sie einfach nicht an die Öffentlichkeit gehören“.
      Wenn diese dermaßen aufregenden „Papiere“ bereits „absicherten“, dann benötigten Sie noch eine weitere Bestätigung. Aber selbst, wenn Ihrer Meinung nach zwei zusätzliche Verifikationen erforderlich gewesen sind, wollen Sie doch nicht etwa andeuten, Sie hätten, statt zu telefonieren, Kopien Ihres Materials verschickt? Das käme ja einem Eingeständnis des fahrlässigen Umgangs mit dem für Journalisten sakrosankten Gebot des Quellenschutzes gleich, der ein strafbewehrtes Verfassungsgrundrecht berührt (nach Art. 5 GG sowie nach § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO, § 383 Abs. 1 Nr. 5 ZPO sowie § 102 Abs. I Ziffer 4 AO). Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen einzigen Journalisten bei der Landeszeitung gibt, der „Verifikation“ mit Informantenverrat verwechselt. Also – so hoffe ich wenigstens inständig – haben Sie mir mit der Skizze Ihrer Vorgehensschritte KEINE Antwort auf meine Frage gegeben, wie der ChatScreenshot aus Ihrem Haus in die CDU-Zentrale gelangte.

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    • Daniel schreibt:

      Lieber Herr Rath,

      was für ein Eiertanz! Ich habe Sie nicht um eine Rechtfertigung, sondern um eine Antwort auf meine Frage gebeten.

      Ich übersetze mir Ihr Geschwurbel mal ins Deutsche.

      Im Klartext:

      Ein(e) Redakteur(in) hat oder mehrere Redakteur(inn)e(n) der Landeszeitung haben den als Fotokopie anonym eingehändigten ChatScreenshot in die CDU-Zentrale gechickt.

      Entspricht das der Wahrheit? Können Sie das so bestätigen?

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      • jj schreibt:

        Lieber Daniel, ich glaube Herr Rath hatte Ihnen bereits geantwortet. LG hhjenckel

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      • Olaf Kunert schreibt:

        Lieber Herr Jenckel, lieber Herr Rath,

        entgegen Ihrer Behauptung, Herr Jenckel, kann ich nicht erkennen, dass Herr Rath diese Frage schon beantwortet hat. Es handelt sich um eine Frage, die nur eine aus zwei möglichen Antworten zulässt: Ja oder Nein.

        Für welche entscheiden Sie sich? Wie lautet Ihre Antwort? Zu dieser Frage:

        Hat ein(e) Redakteur(in) der Landeszeitung oder haben mehrere Redakteur(inn)e(n) der Landeszeitung den der LZ als Fotokopie anonym eingehändigten ChatScreenshot [zum „Verifizieren“] in die CDU-Zentrale geschickt? Entspricht das der Wahrheit? Können Sie das so bestätigen?

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      • jj schreibt:

        Da ich nicht in der CDU-Zentrale sitze, weiß ich nicht, was dort wie als Post eingeht. Mehrere Diskutanten unterstellen uns hier einerseits unsauberen Umgang, fordern andererseits selbst Indiskretionen ein. Das ist eine bizarre Ebene. Ich kann und werde nicht unsere Quellen und auch nicht die Arbeit mit ihnen offenlegen. Da muss ich um Ihr Verständnis bitten. Beste Grüße aus der LZ-Redaktion Marc Rath

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      • Marc Razj schreibt:

        Klare Antwort – Nein, das Papier ist von der LZ nicht an die von Ihnen erwähnte CDU-Zentrale geschickt worden.

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  2. Kevin Schnell schreibt:

    Lieber Herr Chefredakteur Marc Rath,

    ich möchte die Frage von Läufi-Studiosus Daniel und das verschwiemelt verdrückte Ausweichen des Kreistagsabgeordneten Fahrenwaldt vor einer Stellungnahme (beides siehe oben) zum Anlass nehmen, um mich direkt an Sie zu wenden, und Sie um Antwort auf die Fragen von Daniel und Jutta Kramer bitten:

    Am vergangenen Sonnabend haben Sie Ihre Leser ermuntert, über das Folgende nachzudenken: „Bewegt sich die AfD auf einer nationalkonservativen Linie oder gewinnt die Rechtsaußen-Riege die Oberhand?“ (https://www.landeszeitung.de/kommentar [File access am 7. Januar 2018 um 15:04 Uhr])

    Können Sie uns erklären, was Sie mit Ihrer Unterscheidung zwischen einer „nationalkonservativen Linie“ und einer „Rechtsaußen-Riege“ der AfD zum Ausdruck bringen wollen? In Daniels Worten: Dass wir unter den AfD-Leuten (sowohl Anhängern als auch Mitgliedern) einen gemäßigten oder kaschierten und einen offenen, aggresiven Rechtsextremismus (durchweg inklusive Rassismus, Antiparlamentarismus und illiberalem Autoritarismus) beobachten, diese graduelle (und in ihrer Faktizität triviale) Abstufung kann von Ihnen ja wohl nicht gemeint gewesen sein. Sonst hätten Sie das geschrieben. Auf welcher „Linie“ bewegt man sich, sehr geehrter Herr Rath, wenn man sich im Europa des Jahres 2018 auf „einer nationalkonservativen Linie“ bewegt? Wie lässt sich diese Linie konkret beschreiben?

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  3. Jutta Kramer schreibt:

    Hallo Herr Jenckel,

    Sie formulieren: „Der jüngste Fall für Karthasis ist die AfD, oder besser der Anhänger. Wie wurde die Partei verteufelt, bis die Schreiber nach dem Wahlerfolg konsterniert feststellten, dass sie Steilvorlagen für die Wählerstimmen sichernde Opferrolle geliefert hatten. Künftig will man die Parteigänger ernster nehmen und nicht gleich die Nazi-Keule schwingen.“

    Hier scheint mir ein Moment von Taktik und volkspädagogischem Paternalismus (neudeutsch: Nudging) in Ihre Rezeptur für „einen geraden journalistischen Rücken“ zu geraten. Ist denn die LZ dafür verantwortlich, wie die Wahlergebnisse von Leuten wie Bernd Althusmann oder Alexander Dobrindt sich ausnehmen? Macht „man“ sich nicht ein Denk- und Propagandamuster der bloß neu eingekleideten alten Rechtsextremisten zu eigen, wenn „man“ deren Stereotyp der Täter-Opfer-Inversion akzeptiert („nicht gleich die Nazi-Keule schwingen“) und ihre Parteigänger ebenso wie ihre Mitglieder nicht mehr als das beschreibt, was sie sind: unaufgeklärte, ressentimentgeladene Rassisten und Neo-Faschisten?

    Besteht nicht die große Gefahr heute darin, dass Journalisten verlernen eine Meinung zu haben und zu vertreten, dass die Verrohung der Sprache und die Unvernunft der politischen Agitation in die Inhalte, vor allem aber in die Formen der journalistischen Darstellung einwandern?

    Ein Beispiel finde ich im gestrigen (von Schreibfehlern und überflüssigen Attributen überquellenden) „Leitartikel“ des neuen LZ-Chefredakteurs Marc Rath, der mit rhetorischer Suggestivität fragt: „Bewegt sich die AfD auf eine [sic] nationalkonservative Linie oder gewinnt der [sic] Rechtsaußen-Riege die Oberhand?“ (https://www.landeszeitung.de/kommentar (Zugriff 7.1.2018, 17:29h))

    Was ist „eine nationalkonservative Linie“, Herr Jenckel? Stammt dieser Ausdruck nicht ebenso wie der Begriff „Nazikeule“ aus dem Kostümierungs- und Verblödungsvokabular rechtsradikaler Selbstbeschreibungen?

    Die neue österreichische Regierung, lese ich, „dreht die Zeit zurück“ („Tagesspiegel“) und verläßt den Weg zum Bevormundestaat: „In der Präambel ihres Programms steht der Satz: ,Wir müssen der staatlichen Bevormundung ein Ende setzen.’ Und vier Sätze später gleich noch einmal: ,Statt Bevormundung von oben herab geht es darum, den Dienst an den Österreicherinnen und Österreichern zu leben.’ Es geht um das Ende der tatsächlichen, empfundenen oder bloß behaupteten Gängelung der Bürger eines Landes durch dessen Obrigkeit, durch den Staat mit seinen Gesetzen, durch Leute in den Großstädten und deren Moralismus, durch ,Gutmenschen’ und die Sprachschöpfungen von Feministen und Gender-Experten. Vor allem die Wähler der FPÖ beklagen das. Und der Regierung geht es darum zu zeigen, daß tatsächlich eine neue Zeit angebrochen ist in Österreich. Kurz vor Weihnachten sprach der neue Verkehrsminister in Interviews davon, über eine Lockerung des Autobahn-Tempolimits von 130 Kilometern pro Stunde nachzudenken.“ Das absolute Rauchverbot in der Gastronomie ist bereits kassiert.

    Man kann sich leicht vorstellen, wie das weitergeht. Die einheitlichen Tarifverträge werden folgen, dann die Krankenversicherungspflicht, die freie Schulwahl und „der Terror“ des allgemeinen Kitaplatzanspruchs. Bevor die „autonomen Eigenverantwortlichen“ begreifen, wie ihnen geschieht, wird die erste Million von ihnen schon in Altenasylen am Stadtrand vor sich hinvegitieren.

    Sollten „die Journalisten der Generation 2.0“, anstatt über den „Stoff“ zu grübeln, „aus dem gute Geschichten für Leser sind“, nicht ein wenig mehr Sorgfalt beim Gebrauch ihres Arbeitsinstruments, der Sprache, walten lassen, Herr Jenckel? Der Stoff drängt sich doch meist von alleine auf. WIE er präsentiert wird, entscheidet darüber, ob ein „Bericht“ zur Wahrheitsfindung beiträgt – oder nicht.

    Sie erinnern sich bestimmt an Margaret Hilda Roberts, die am 13. Oktober 1925 am Rande von Grantham, Lincolnshire als Tochter eines jämmerlich armen Krämers geboren und als Margaret Hilda Thatcher, Baroness Thatcher of Kesteven am 8. April 2013 in London starb?

    „What we think, we become. My father always said that.“, soll die „Eiserne Lady“ als Premierministerin mehr als einem ihrer Wegbegleiter mit auf den Weg gegeben haben.

    Die folgenden abgenutzten Verse, von denen niemand sicher weiß, woher sie stammen, hat sie gerne zitiert:

    Achte auf Deine Gedanken,
    Denn sie werden zu Worten.
    Achte auf Deine Worte,
    Denn sie werden zu Handlungen.
    Achte auf Deine Handlungen,
    Denn sie werden zu Gewohnheiten.
    Achte auf Deine Gewohnheiten,
    Denn sie werden Dein Charakter.
    Achte auf Deinen Charakter,
    Denn er wird Dein Schicksal.

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    • Stefan schreibt:

      Liebe Frau Kramer,

      aber doch nicht nur die WählerInnen (kleiner Scherz!) der FPÖ und Alexander Dobrindt beklagen die vergnügungsabstinente „linke Meinungsdiktatur“ (nach „gefühlten 100 Jahren konservativer geistig-moralischer Wende mit Helmut Kohl aus Oggersheim, nach gefühlten zehn Minuten Zerschlagung der Sozialdemokratie während der sozialdemokratischen Schreckensherrschaft von Gerhard Schröder, nach gefühlten 1.001 Jahren eher nicht so linker Groko mit kurzem 300-jährigen, eher nicht so linken schwarz-gelbem Zwischenspiel, mit Aussicht auf weitere 5.000 Jahre eher nicht so linken Weiterregierens; in einem Land, in dem Rechtsradikale, die Anschläge verüben, gewohnheitsmäßig verharmlost werden und ihren eigenen politischen Arm im Parlament haben“, Die Zeit); auch der österreichische Kulturprofessor und Bestsellerautor Robert Pfaller schimpft auf die allwaltende Askese und beklagt den Verlust von „Lust- und Genußpraktiken, die, wie das Tragen von Pelzen, das Autofahren, das Austauschen von Komplimenten, die körperliche Liebe, das Rauchen, das Verschwenden von Zeit oder das Essen von Fleisch, heute für viele Zeitgenossen, sei es aus hygienischen, moralischen, politischen oder ökologischen Gründen etc., nur noch abstoßend sind“; und weil, wichtiger, „pedantische Oberaufseher“, „Oberlehrer“ und „Mimosen“, mithin die Moralisten und Sprachreglerinnen aus den „liberalen, wohlhabenden Innenbezirken“ der Großstädte das so verlangten.

      Und zwar, und das ist die Pointe von Pfallers frischem Buch „Erwachsenensprache“, als neoliberale Agenten (https://www.fischerverlage.de/buch/erwachsenensprache/9783104904436). Gleichheit sei nämlich ganz und nicht dasselbe wie Diversität, sondern ihr reines Gegenteil: Die unterm neoliberalen Diktat schwindende materielle Gleichheit werde durch eine bloß symbolische ersetzt, in welcher zwar immer mehr Menschen immer weniger haben, dafür aber über einen Reichtum an Empfindlichkeiten und Identitäten verfügen, deren umfängliche Anerkennung lediglich die perfide Kehrseite des Umstands ist, daß die neoliberale Gegenwart vieles anerkennt, den Menschen als Humanum aber ganz gewiß nicht. Korrektheit sei deshalb neoliberale „Propaganda“ und überdies ein Distinktions- und Konkurrenzmittel der linksliberalen Mittelschicht, um „falsche“ Lebensweisen und „das rebellische, vulgäre und ungehörige Sprechen sämtlicher anderer zu diskreditieren“. Tatsächliche, konkrete Gleichheit und „politische Selbstbestimmung“, so Pfallers Schluß, könnten nur da gedeihen, wo es mit der Korrektheit ein Ende habe und wieder das Argument zähle, nicht die Person.

      Das ist bedenkenswert, einerseits. Andererseits sind das die Sorgen der FPÖ-Kundschaft und ließe sich umgekehrt argumentieren, daß Rasen und Fressen („Die Spezialität des Hauses kommt in einer Art Blechtrog: ein Meter Österreich mit Schweineschnitzel, Rindsgulasch, Blunzengröstl, Eiernockerln und Würstchen“, „Tagesspiegel“) ja auch bloß konsumistische Sedativa sind und „Genuß“ unterm Kapitalismus nicht das ist, was vielleicht Adorno darunter verstand. (Ein akademisch-moralischer Großstadteinwand wiederum, gewiß; aber warum sind die Menschen jetzt plötzlich freie Genußwesen, wo sie doch sonst Charaktermasken sind?) Die Leute, schreibt Pfaller, würden systematisch zu Jammerlappen gemacht, die wegen jedem Pups zur Diskriminierungsstelle liefen; aber müssen nicht allenthalben die Kinder schon „stark“ werden (wegen Drogen, Markt usw.), und ist der resiliente Sport- und Outdoortypus nicht mindestens genauso zeittypisch wie Pfallers Gendermimose? Und ist das Mittelschichtspublikum, das sich nicht von akademischen Verbotsbeauftragten gängeln lassen will, beim Jammern (nämlich übers „Verbot“, Auto zu fahren und Fleisch zu essen, was ja nun ein Witz ist) nicht vorne mit dabei? Und zutiefst dankbar, daß wer die Schuld an Ausbeutung und Armut ausdrücklich nicht in den klassenspezifischen Konsum- und Ellbogengewohnheiten (als nämlich durchaus moralfernen) erkennt, sondern bei den Eierköpf*innen und dem Ami ablädt, der den PC-Quark aus den üblichen sinistren Motiven angerührt hat?

      Sündengeiß (nicht -bock) Diversität also. Was aber ist mit der Bewußtseinsindustrie, der täglichen Konsum- und Systempropaganda und jenem „Klassenkampf der Mitte“, geführt von der „großen Koalition der Wohlstandsbewahrer“ (Stephan Lessenich), denen Gleichheit (oder gar Sozialismus) zirka tausendmal weniger wichtig ist als die Möglichkeit, die optimale Schule fürs Kind zu finden und ohne Gewissensnot den Osterferienflug buchen zu können? Hat man sich in der guten alten präneoliberalen und vorkorrekten Zeit wirklich pauschal „erwachsener“ verständigt, wenn man Schauspielerinnen wie Helen Mirren in Talkshows männlicherseits auf ihr Dekolleté ansprach (SZ, 5.1.) oder Spaghettifresser wie Tonio Schiavo in Herne vom Dach schmiß (https://www.youtube.com/watch?v=db7JGCFPJvs)? Gibt’s nicht auch queere Facharbeiter auf dem Land, und kriegt etwa die Antifa Systemablehnung und *-Kultur nicht auch zusammen? Und wenn nur das Argument zählt, warum hält es Pfaller dann mit dem 9/11-Verschwörungstheoretiker Daniele Ganser (https://de.wikipedia.org/wiki/Daniele_Ganser)?

      Das sind so Fragen. Aber sie zu stellen ist ja Teil des produktiven, systemüberwindenden Dissenses, der wieder möglich werden soll. Ich bin dabei.

      Sie auch, Herr Jenckel?

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  4. Klaus Bruns schreibt:

    wer wie ich viele zeitungen liest , könnte das gleiche erfahren. zum beispiel die Welt. sie wird immer komischer. versteckt ihren stuss mit einem plus-zeichen. dieses bedeutet, nur hard core leser des neo-liberalen anhangs können ihn bis zum ende lesen. broder und konsorten stehen nicht mehr frei zur verfügung. die kritik war wohl doch zu heftig. interessant ist es , wenn man noch genauer hinschaut. es sind artikel in einer bestimmten richtung, die vor kritik geschützt werden soll. springer eben. deren demokratieverständnis ist mit primaten, die im wald leben zu vergleichen. die affen führen auch krieg.

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  5. Klaus Bruns schreibt:

    frage ,herr jenckel: warum transportieren journalisten dass selbsternannte bürgerliche in den medien? jedesmal wenn ich das lese, bürgerlich -konservativ, betrachte ich es als beleidigung meiner person. ich bin auch ein bürger und habe es nicht gern , diskriminiert zu werden. denn nur dazu wird das wort bürgerlich missbraucht.

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    • jj schreibt:

      Herr Bruns, das Bürgertum ist nichts Schlechtes, das war mal eine Errungenschaft als Gewicht gegen den Adel, der Begriff ist eher in der Konotation in Verruf geraten, Spießigkeit und Engstirnigkeit haften ihm da ab. Und damit haben Sie es ja nicht. Also stören Sie sich nicht daran.

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    • Kevin Schnell schreibt:

      Lieber Herr Bruns,

      Herr Jenckel hat Ihnen die Sache von der geschichtlichen Seite her erläutert. Ich will Ihnen nach einer Vorbemerkung gleich einen Blick auf die praktische ermöglichen. Der Bürger ist der Mensch in der Mitte. Vom Bauern stammen Fleiß und Nüchternheit, vom geistlichen und weltlichen Adel schaute er sich Lebensart und das Bewusstsein seiner Sonderstellung ab. Irgendwo zwischen beiden musste er festen Boden unter die Füße bekommen und sich im Dasein stabilisieren. Er hat nichts von seinen Vätern ererbt, weder Grund noch Titel. Er muss erwerben, um zu besitzen. Die oft geäußerte Annahme, Heimat, Bürger und Nation gehörten zusammen, ist historisch ganz unzutreffend. Im Gegenteil hat wenig so sehr zur Schwächung der vertrauten ruralen Heimatumgebungen beigetragen wie der moderne Nationalstaat. Der Nationalstaat ersetzte Herrschafts- und Gesellschaftsformen auf Merk- und Sichtweite durch rationale Verwaltungen. Er brach in die Lebenswelten ein als Steuer- und Militärstaat, mit Bürokratie und Wehrpflicht. Die persönlichen Loyalitäten gegenüber einem Monarchen und seiner Dynastie oder den Feudalherren, die auch jeder einzelne Reppenstedter über Generationen von Angesicht zu Angesicht kannte, ersetzte die Nation durch Staatsbürgerschaft, durch eine abstrakte Staatssymbolik mit Fahnen und Hymnen, durch Geschichtsmythen und Ideologien, die mithilfe der allgemeinen Schulpflicht, eines zentral gesteuerten Ausbildungswesens und nicht zuletzt durch die Presse vermittelt wurden. Aus Dorfgenossen wurden Mitbürger. Die einst regional und ständisch verfasste Gesellschaft spaltete sich in überregionale Klassen und Parteien. Mit urtümlichen lokalen Gemeinschaftsgefühlen war es vorbei. Die moderne Nation ist mit den Worten des amerikanischen Politologen Benedict Anderson nur noch eine „vorgestellte Gemeinschaft“. Das gilt für alle europäischen Länder – lesen Sie nur nach, wie in Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“ die italienische Nation ins alte, kleinräumige, von familiärer Nähe bestimmte Sizilien einbricht.

      Heute sind vom Bürger nur noch zwei Formen übrig geblieben: der Staatsbürger als das freie Subjekt von Ansprüchen und Pflichten in einem rechtlich verfassten Gemeinwesen und der Spießbürger, der seinen verständlichen, aber kindischen Wunsch nach Vertrautheit und Homogenität auf ein politisches Großgebilde überträgt und die Gesellschaft gern wieder als überschaubare, vornationale Dorfgemeinschaft hätte, in der jeder Apfelkuchen mit Schlagsahne annähernd so schmeckt, wie ihn am allerbesten natürlich nur seine eigene Mutti backen konnte.

      Solange der Philister darauf wartet, dass alles noch einmal so wird, wie es nie gewesen ist, aber er es sich ausmalt, benimmt er sich vor allem „natürlich“ –, aber oft gedankenlos. Ihr Freund und Kollege Robert Gernhardt hat das vor Jahren in Reimen beschrieben:

      Wenn mit großen Feuerwerken
      Bürger froh das Dunkel feiern,
      sich mit Bier und Fleischwurst stärken
      und in die Rabatten reihern,

      Wenn sie in den Handschuhfächern
      kundig nach Kondomen tasten,
      und die breiten Autos blechern
      strahlend ineinanderhasten,

      Wenn in Häusern bunte Schatten
      herrlich aufeinander schießen,
      sich verprügeln, sich begatten,
      bis die letzten Kinos schließen,

      Wenn dann in zu lauten Räumen
      viele Menschen sich bewegen
      und beim Lärmen davon träumen,
      stumm einander flachzulegen,

      Wenn am Ende Franz und Frieda
      glücklich in der Falle liegen -:
      Wer gedenkt dann jener, die da
      noch eins in die Fresse kriegen?

      Hier können Sie sich die lyrische Zusammenschau zeitgenössischer Ausübungen hanseartiger Bürgerlichkeit vom Dichter selber vortragen lassen: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/samstagabendfieber-1228

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      • Klaus Bruns schreibt:

        Lieber Herr Schnell, das Bürgertum ist mir nicht unbekannt. Nett mich aufklären zu wollen. Mir geht es aber um was anderes. Dobrindt und andere ,,Spaßvögel,, benutzen das Wort Bürger gern in dem Zusammenhang,,dort sind die braven Bürger,dort sind die bösen Linken“. Das Wort link ist darin so praktisch enthalten. Wer oder was link ist, wird gern von den selbsternannten Bürgern in der Politik zugeordnet. Die Presse übernimmt es gern eins zu eins, ohne scheinbar darüber nachzudenken.

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      • Kevin Schnell schreibt:

        In Bayern stehen Wahlen ins Haus. Und die CSU sieht einem selbstverschuldeten Desaster, einem Stimmenverlust gigantischen Ausmaßes entgegen. Wem die eigene Macht- und Einkommensbasis wegzubrechen droht, dem kann der Fortbestand der deutschen Demokratie schon einmal gleichgültig werden. Da müssen Sie Verständnis dafür zeigen, Herr Bruns, dass der arme Kerl alle die als echte „Bürger“ umarmt, die ihn und die Seinen wieder ins Amt hieven sollen, und alle die, die das nicht tun möchten, als linksversiffte Vaterlandsverräter und als „unechte Deutsche“ perhorresziert. Das ist Ausdruck der blanken, verrückt gewordenen Panik am Rande des völligen Austickens.

        Zu den unentschuldbaren Dummheiten von Dobrindt hat Christian Bangel alles Nötige gesagt: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-01/alexander-dobrindt-csu-thesen-linke-politik-antwort

        Und Marietta Slomka hat ihn gestern Abend als hohle Nuss enttarnt, ja, regelrecht zerlegt und auf eine Weise als geistlosen Schwätzer vorgeführt, die „sein Image“ nun wohl auf alle Zeit irreparabel „geprägt“ haben wird. Nehmen Sie sich die sieben Minuten: https://www.youtube.com/watch?v=uAIG5cnXTW8

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    • Sibylle Schweizer schreibt:

      Vielen Dank für den Link zum Slomka-Dobrindt-Video. Ich dachte, mit Althusmann hätten wir die intellektuelle Untergrenze auf Ministerebene in Deutschland definitiv erreicht. Aber Dobrindt hat jetzt klar bewiesen: Dümmer geht ümmer.

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  6. Klaus Bruns schreibt:

    hier fällt das stichwort medienfachmann. schmunzeln.
    http://www.dctp.tv/filme/schramm_sanftleben_das-weichziel-ist-der-mensch/

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  7. Lars Trede schreibt:

    Hallo Herr Jenckel,
    Sie sind Journalist. Und Sie betonen die Wichtigkeit des Journalismus sogar in seinem Versagen. Aber übertreiben Sie nicht?
    – Sind das aufgeregte Geschwafel über das nahende Y2K-Problem von Ende 1999 und dessen dramatische Konsequenzen (in Australien fielen in zwei Bundesstaaten Fahrkartenentwerter aus, in den USA ca. 150 Spielautomaten an Rennbahnen in Delaware) wirklich mit Ihren anderen Beispielen vergleichbar?
    – Der weltweite Zusammenbruch des Kreditmarktes im Jahre 2008, war das nicht vor allem ein Offenbarungseid der sogenannten „Wirtschaftswissenschaften“, die sich von der Astrologie ja bekanntlich bis heute nicht groß unterscheiden?
    – Haben Sie nicht zu erwähnen vergessen, dass bei der Demontage von Wulff gegen Ende 2011, auch der damalige niedersächsische CDU-Justizminister eine entscheidende Rolle gespielt hat?
    – Ist die Blase des europäisch-US-amerikanischen Rechtsextremismus und seines einfältigen Propagandaterrors nicht vor allem das Resultat der anhaltenden Mut-, Sprach- und Gedankenlosigkeit eines großteils unseres politischen Personals?

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    • jj schreibt:

      Lieber Herr Trede,
      ja, das Geschwafel ist in unseren Breitengraden durchaus vergleichbar. Ich selber habe übrigens in der Nacht im Schaltraum der Avacon gesessen. Es wurde Mitternacht, es wurde Morgen. Passiert ist nichts. Dabei hatten auch wir vorher mächtig aufgefahren.
      2. Nein, die Finanzkrise war auch ein Problem des Wirtschaftsjournalismus. Wenn die Journalisten nicht mit den Wissenschaftlern vernetzt sind oder besser selber welche sind, denn es geht ja um das Transformieren komplexer Sachverhalte, dann sieht es ganz düster aus.
      3. Bei Wulff bin ich gar nicht ins Detail gegangen. Wulff selber hatte die Bodenhaftung verloren und in der Krise falsch agiert. Das ändert aber nichts an der Treibjagd, zu der die investigative Recherche am Ende wurde.
      4. Was wir erleben, ist nach der Globalisierung ein aufkeimender Nationalismus allerorten. Das ist ein ganz böses Zeichen. lg

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  8. Karlheinz Fahrenwaldt schreibt:

    „Grau, ach so grau ist alle Theorie!“ (Originalzitat nach Horst Schlämmer oder Knut Kiesewetter).
    Neuer Herr (Chefredakteur) mit neuem Geschirr (Artikeldienst) und mit neuer Unternehmensphilosophie (für die Journalist*Innen) und neuer Seitengestaltung am Start ins neue Jahr! Ich wünsche Glück auf!
    Einige wichtige zu verändernde Punkte hat jj ja oben schon benannt. Hier noch einige mir aufgefallene Änderungsmöglichkeiten:
    • Kontrolle der eingekauften Artikel auf sachliche Richtigkeit und Überprüfung der in den Überschriften postulierten Artikelinhalte mit dem im Text manifestierten Inhalten (Negativbeispiel: Die Grafik in dem Artikel der LZ vom 5. November 2015 „Die Qualität der Berufswahl“ zeigt zwei Säulendiagramme, von denen das rechte blaue niedriger ist als das linke braune, obwohl die Zahlen bei dem Blauen höher sind!).
    • Verzicht auf Propagandaartikel staatlicher, halbstaatlicher und privater Organe! (Beispiel: in der LZ vom 29. Januar 2015 wurden auf einem Bild in dem Artikel „Drohnen, Späher, Scharfschützen“ mit dem Untertitel „Bundeswehr präsentiert in Eutin ihre Ausrüstung“ ein Panzer mit plattem Vorderreifen und Soldaten mit Kampfanzügen, die für russische Wälder aber nicht für die afrikanische Savanne geeignet sind dargestellt).
    Die Leserschaft braucht nach meiner Meinung eine Presse, die sich als kritischer Wissensvermittler mit Unterhaltungswert und ohne „Gehirnwäsche“ daherkommt.

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    • Arne schreibt:

      Sie fordern also die Zeitung als das journalistische Gegenstück zum satirischen Themenplakat, Herr Fahrenwaldt?

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    • Daniel schreibt:

      Lieber Herr Fahrenwaldt,

      ich habe drei Fragen an Sie:

      Herr Jenckel spricht die Praxis der liturgischen Selbstgeißelung an, eine Disziplin, die sich bei den frühen Mönchen vom stoischen Ertragen oder Aushalten in ein agonales Konzept zur Bekämpfung aufwühlender Leidenschaften (Sie wissen schon, der Hunde im Souterrain) verwandelte. Der erlösungsbedürftige Mensch wollte sich durch seine asketischen Übungen über seine Grenzen hinausheben. Eine Vergegenwärtigung war gemeint, welche bloße symbolische Ähnlichkeiten und geschichtliche Bezüge durchbrechen und eine reale Unmittelbarkeit zum leidenden Gott herstellen sollte. Die Flagellation war nicht mehr nur Bußübung, sondern wurde Teil eines eschatologischen Schauspiels, das einerseits auf die körperliche Wiederholung des Leidens Christi abzielte, andererseits aber den sich geißelnden Eremit zum geistigen Athleten machte, der sich langsam steigernd zu Höchstqualen anspornte.

      1. FRAGE: Könnte man Ihrer Meinung nach sagen, dass es so schon damals zu einer leistungsorientierten Quantifizierung der Geißelungen kam, die die Bußübungen zu dominieren begann und den Körper mit Blick auf das Heil instrumentalisierte? Sehen Sie hier Parallelen zu leuphanatischen Erziehungs- und Domestikationsmethoden, mit denen Studierende an der Modellallee neuen Typs auf die Konsumherausforderungen in der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts heiß gemacht werden?

      Das Flagellantentum wird heute insbesondere (a) als Bezeichnung für mittelalterliche christlich-religiöse Bewegungen (CDU, AfD) verstanden, die durch Selbstgeißelung Sündenvergebung zu erlangen erhofften, insbesondere in allgemeinen Krisen, zum Beispiel während der nachmittäglichen Weihnachtsfeiern am Johanneum, und (b) im moderneren Sinne auch als abschätziger Ausdruck dafür gebraucht, dass sich jemand aus Schuldgefühl oder anderen moralischen Gefühlen bewusst selbstschädigend verhält, ohne dass dies jemandem (außer den Rechtsextremen) nützte.

      2. FRAGE: Gibt es solche rüden, für die Öffentlichkeit inszenierten Selbstanklagen unter den Lüneburger Linken (Stichwort: Show- bzw. Schauprozesse) auch noch? Oder wie bewältigen Sie Ihre politischen Fehler, wenn die für einzelne Parteimitglieder (z. B.: Michèl Pauly) erhebliche berufliche (oder private) Härten nach sich ziehen?

      Der Vorgang der heilsamen Selbstgeißelung geht etwa aus dem „Liber ordinarius“ des St.-Jakobs-Klosters in Lüttich hervor: Der Mönch, der sich geißeln lassen wollte, bat einen Priester, diese durchzuführen. Dann setzte er sich hin, machte den Rücken frei und betete dreimal das Confiteor. Während der ersten beiden Gebete antwortete der Priester mit „Miseratur tui“ und schlug mindestens dreimal zu. Beim dritten Mal sprach er das „Indulgentiam“, die Kurzformel der priesterlichen Absolution und abschließend das „Absolve Domine“. Danach folgten noch einmal drei Schläge. Jeder Mönch durfte täglich um drei solcher Bußsitzungen bitten. Der Text betont, dass der Geißelnde gehalten war, nicht zu fest zuzuschlagen. Dieser ritualisierte Vorgang war auch Vorbild der privaten Selbstgeißelung in der Zelle. Auch sie war vom Gebet begleitet. Daraus entwickelte sich allmählich eine eigene Liturgie: Die 1617 approbierten Regeln des Ordens der Hospitaliter von San Giovanni di Dio schrieben vor, dass sich die Mitglieder jeden Freitag die Disziplin geben, ausgenommen in der Osterzeit oder an Freitagen, die hohe Feiertage sind. Im Advent und in der Fastenzeit mussten sie sich dreimal in der Woche geißeln. Die Geißelung hatte folgendes Schema: Nach der „Matutin“ und nach den „Laudes für Maria“ fand die Geißelung im Betsaal oder in der Kirche statt. Man sang den Psalm 6 und fiel dabei auf die Knie. Dann wurden alle Lichter gelöscht. Dann hielt der Prior eine kurze Ermahnungsrede über den Sinn der Geißelung. Nach kurzer Wechselrede folgte eine lateinische Lesung, in der die Geißelung Jesu thematisiert war. Dann begann die Geißelung, wobei das „Miserere“ und das „Gloria Patri“, „De profundis“ und „Requiem aeternam“, der Introitus der Requiem-Liturgie, gebetet wurde. Dem folgten drei Bittgebete für die Mitglieder des Ordens, alle Gläubigen und die ganze Menschheit. Der Prior beendete die Geißelung dann durch Händeklatschen.

      3. FRAGE: Wenn Sie Priester oder Prior durch die Namen „Ulrich Mädge“ bzw. „Manfred Nahrstedt“ ersetzen und sich die Rats- bzw. Kreistagsmitglieder als Mönche vorstellen, denken Sie, es würde der Konzentration und der Mitarbeit unserer Vertreter bei ihren Entscheidungsfindungsprozessen in Rat und Kreistag nützen, wenn Sie das Recht hätten, sich vor den Gremiensitzungen vom OB bzw. Landrat die Blutzirkulation durch drei Rutenstreiche über den entblößten Rücken stimulieren zu lassen? Oder fürchten Sie, in dieser Bewegung stecke ein laienemanzipatorisches Element, weil so die Laienpredigt und die Laienbeichte in Anspruch genommen wird und Herr Althusmann am Ende aus dem Hannoveraner Wirtschaftsministerium heraus in Richtung Johanneum und Johanniskirche über die Verpöbelung ehrwürdiger Privilegien klagen könnte? Mit diesen oder ähnlichen Worten vielleicht: „Taglöhner, Müller, Metzger verkünden das Evangelium, heimlich verschwören sie sich gegen den Klerus, der Schuster ist Beichtvater und erlegt die Buße auf, der Weber und der Schmied predigen und feiern die Messe.“

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      • Karlheinz Fahrenwaldt schreibt:

        Lieber Daniel, war es der Restalkohol vom Jahreswechsel? Ansonsten würde mich interessieren was Sie genommen haben und wieviel davon und wo kriegt man das Zeug?

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      • Daniel schreibt:

        Lieber Herr Fahrenwaldt,

        leider beantworten Sie meine drei Fragen nicht, die zusammengenommen ein Interesse haben: Wie wirken konfessionsgeschichtlich verinnerlichte Verhaltensschemata in ihrer säkularisierten Form in unserem Denken und Handeln bis heute weiter? Stattdessen werden Sie persönlich. Halten Sie es denn für so ungewöhnlich, wenn ich von Ihnen als einem Mann der Tat wissen möchte, wie Sie die religiösen Aspekte der von Herrn Jenckel beschriebenen JOURNALISTISCHEN Exkulpationspraktiken im POLITISCHEN Raum moderner Lüneburger Diskurskultur einschätzen und bewerten? Wie steht es um Ihre „Anerkenntnis der christlichen Prägung unseres Landes“, lieber Kreistagsabgeordneter Fahrenwaldt? Fürchten Sie nicht, unser Heiligenthaler Hirte Bernhardus Althusmanntus, seines Zeichens Landeswirtschaftsminister könnte mit eben diesem Vorwurf grundiert eine entrüstete, ganz privat an Sie gerichtete Presseinformation aus Hannover an sämtliche europäischen Nachrichtenredaktionen schicken?

        Seien Sie so gut, Karheinz, investieren Sie ein klein wenig Gehirnschmalz. Die Blog.jj-Leserschaft braucht nach meiner Meinung einen Fahrenwaldt, der sich als kritischer Wissensvermittler mit Unterhaltungswert versteht und der ohne „Gehirnwäsche“, aber mit viel assoziativer Gedankenenergie daherkommt.

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      • Karlheinz Fahrenwaldt schreibt:

        Lieber Daniel, wenn Sie mir die von Ihnen verwendete Droge benennen (einschließlich der Quantifizierung) und ich nach der Einnahme derselben noch zu annähernd gleichwertigen Texten in der Lage bin, könnte ich Ihre Fragen eventuell beantworten. So nüchtern klappt das nicht!

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    • Daniel schreibt:

      Da sehn Sie mal, Herr Fahrenwalt: „Grau, ach so grau ist alle Theorie!“ (Originalzitat nach Horst Schlämmer oder Knut Kiesewetter).

      Was die Hindernisse für die von anderen geforderte, selbst aber nicht „umgesetzte“ Praxis betrifft, war die Sache letztlich wohl schon 1965 klar: https://www.youtube.com/watch?v=28ka77SJA6o

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    • Daniel schreibt:

      Ich glaube, da ist mehr zwischen Himmel und Erde als Sidos „oben ODER unten“, Herr Fahrenwaldt. Es gibt auch einen Kitsch im Klagen und Jammern. Diesem Song eignet er im Übermaß. Sie sind eben sehr für das Plakative. Meiner Erfahrung nach kommt man damit weder im Denken noch im Leben besonders weit.

      Aber Themenwechsel, schließlich machen wir hier was mit Medien! Jutta hat weiter unten auf den Leitartikel des neuen LZ-Chefredakteurs Marc Rath vom Sonnabend aufmerksam gemacht, der zwischen einer „nationalkonservativen Linie“ und einer „Rechtsaußen-Riege“ der AfD unterscheidet.

      Können Sie der guten Frau Kramer und mir erklären, was Herr Rath mit der Bezeichnung „nationalkonservative Linie“ wohl hat zum Ausdruck bringen wollen? Dass wir unter den AfD-Leuten (sowohl Anhängern als auch Mitgliedern) einen gemäßigten und einen offenen Rechtsextremismus (durchweg inklusive Rassismus, Antiparlamentarismus und illiberalem Autoritarismus) beobachten, kann ja wohl nicht gemeint gewesen sein. Sonst hätte er das geschrieben. Auf welcher „Linie“ bewegt man sich, Herr Fahrenwaldt, wenn man sich im Europa des Jahres 2018 auf „einer nationalkonservativen Linie“ bewegt?

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      • Karlheinz Fahrenwaldt schreibt:

        Lieber Daniel, fragen Sie Herrn Rath direkt. Ansonsten kann ich Ihnen Wikipedia empfehlen.

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    • Daniel schreibt:

      Ich verstehe, Herr Fahrenwaldt,

      Sie sind der extrabesonders kritisch mahnende Leser, der mal eben ganz generell auf „sachliche Richtigkeit“, „innere Kohärenz“ und „Propagandafreiheit“ pocht, wenn ihn das Publikmachen allgemeiner Forderungen keine weitere Mühe kostet, als ein bisschen schadenfrohes Händereiben, aber wenn einmal ganz konkret nachgefragt wird, ob hier und jetzt „eine Presse als kritischer Wissensvermittler mit Unterhaltungswert und ohne ‚Gehirnwäsche‘ [ideologische Voreingenommenheit] daherkommt“ – oder nicht, dann haben Sie keine Meinung. Schon merkwürdig. Oder?

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  9. Hubi Heinrich schreibt:

    Richtig so!

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  10. ninjadey schreibt:

    Nichts ist verblüffender als die (veröffentlichte) einfache Wahrheit, (Einfügung d. Verf.)

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    • jj schreibt:

      Die öffentliche Meinung ist das wichtigste der Mittel, das wie die Religion in die verborgensten Tiefen dringt, wo administrative Einflüsse keine Einfluß mehr haben. Die öffentliche Meinung verachten ist so gefährlich, als wenn man die moralischen Grundsätze verachtet.
      Klemens Wenzel Reichsgraf Fürst von Metternich-Winneburg
      (1773 – 1859), österreichischer Staatsmann

      „Ich glaube, dass ein leidenschaftlicher Journalist kaum einen Artikel schreiben kann, ohne im Unterbewusstsein die Wirklichkeit ändern zu wollen.“ – Rudolf Augstein

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      • Klaus Bruns schreibt:

        die ,,angebliche,, öffentliche meinung wird von bezahlten journalisten verbreitet. dessen brot ich esse…… ? die springer-presse ist da ein sehr schönes beispiel. das öffentlich rechtliche auch. wer kann sich denn eine wirkliche öffentliche meinung leisten? die angeblichen wirtschaftsweisen? die ihk? die Kirche? usw.

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      • Antonia schreibt:

        Die Synthese Ihrer beiden Zitate ergibt die Einsicht Kissingers: „Die öffentliche Meinung entsteht nicht von selbst; sie wird gemacht.“

        Fragt sich nur: Von wem? Und: Zu welchem Zweck?

        Im Namen „des Christentums“ sind Christen ohne Zahl von Christen abgeschlachtet worden. Und Metternich hat im Namen seiner (woher auch immer gezogenen) Wahrheiten die Mehrzahl der Menschen (und der veröffentlichten Meinungen) in Europa über 35 Jahre lang kujoniert und geknechtet. Die Welt schaut gerade nach Teheran. Dort wird zur Stunde wer im Namen wessen massakriert?

        „Der Volkswille“, „die öffentliche Meinung“, „das nationale Interesse“, „der Islam“, „das Anerkenntnis der christlichen Prägung unseres Landes“, „die abendländische Kultur“, „der Orient“, etc., was sind diese Kollektivsingulare anderes als sprachliche Prostituierte, die mit jedem Großmaul ins Bett gehen, der ihren Preis zahlt?

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  11. Thomas Laukat schreibt:

    jj: Ich machs kurz: Frohes neues Jahr und immer genug Kohlepapier in der Schublade! Mögen Dir die Kommentare nie ausgehen!

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  12. Kevin Schnell schreibt:

    Lieber Herr Jenckel,

    jetzt auf einmal doch wieder Kisch als Gewährsmann? Im zurückliegenden Mai haben Sie mit den Studierenden von der Leuphana-Combo geschimpft: „Nur soviel, Kisch kennen Sie offensichtlich nicht, nur den Mythos, sonst hätten Sie sicher andere investigative Journalisten gewählt. Bernstein, Woodward, Leyendecker oder so.“ (https://jj12.wordpress.com/2017/04/25/die-arena-ein-landkreis-unter-druck/#comment-482) Und zur Selbstcharakterisierung des geschwinden Tatsachenforschers im Unterschied zu den alarmistischen Wichtigtuern gaben Sie den jungen Leuten mit auf den Weg, nicht Dichtung und Wahrheit zu verwechseln: „Kisch war ein toller Reporter, aber kein rasender Reporter, er hat seine Stories bis zu zwölfmal umgeschrieben. Schönes Wochenende.“ (https://jj12.wordpress.com/2017/04/25/die-arena-ein-landkreis-unter-druck/#comment-485)

    Bundespräsident Rau hat Anfang Juni 2004 bei der Jahrestagung des „Netzwerks Recherche“ zehn Gebote für guten Journalismus vorgetragen. Die sind noch heute aktuell:

    1. Gute Journalisten brauchen eine gute Ausbildung.
    2. Guter Journalismus kostet Geld.
    3. Journalisten müssen unabhängig von ökonomischen Interessen sein.
    4. Gute Journalisten brauchen einen eigenen Kopf.
    5. Journalisten müssen Zusammenhänge erkennen.
    6. Journalisten sollten einen Standpunkt haben.
    7. Journalisten sind Beobachter, nicht Handelnde.
    8. Journalisten sollten die Wirklichkeit abbilden.
    9. Journalisten tragen Verantwortung für das, was sie tun.
    10. Journalisten tragen Verantwortung für das Gemeinwesen.

    Sie sehen, Qualität, Bildung, Unabhängigkeit, Mut, Intelligenz, Überzeugungen, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein sollten das Ethos von Medienmitarbeitern sein. Für mich ist noch der unbedingte Wille zur Wahrheit erwähnenswert. Es sollte jedem Journalisten wichtiger sein, dass eine Information wirklich stimmt, als dass sie möglichst schnell in der Welt – aber dann vielleicht falsch oder teilweise falsch – ist. Das besagt der alte, aber zeitlose Lehrsatz „Be first but first be right.“

    Dazu gehört, das Zwei-Quellen-Prinzip ausnahmslos einzuhalten: Eine brisante Neuigkeit gilt erst dann als verlässliche Information, wenn sie aus mindestens zwei voneinander unabhängigen, vertrauenswürdigen Quellen zu gewinnen war. Das Kapital des Journalisten ist das Vertrauen seines Publikums, dass es, wenn es eine Meldung oder eine Push-Benachrichtigung sieht, davon ausgehen kann: Die Information wurde sorgfältig geprüft.

    Gut wäre es auch, vermehrt auf Worthülsen zu verzichten.

    In der letzten Woche haben Sie „den Untergang des Abendlandes“ gegeißelt. Sein kleines Geschwisterkind ist „das Ende des Tages“. In einem Akt großer Selbstbeherrschung ist es inzwischen möglich, einige dieser unsinnigen Englisch-Deutsch-Konstruktionen zu ignorieren, statt sich darüber aufzuregen. Dass etwas Sinn macht (makes sense), statt sinnvoll zu sein: Meine Güte, das Abendland wird’s überstehen. Und dass etwas in 2016 passiert ist und nicht einfach 2016, nur weil dieses „in“ im Englischen der Jahreszahl vorangeht: geschenkt, auch wenn es affig klingt. So weit, so versöhnlich. Aber dieses „Am Ende des Tages“ (at the end of the day), das sich in die Sprache deutscher Phrasendrescher gefressen hat, verdient kein Pardon. Wenn mit bedeutungsschwerer Stimme doziert wird: Am Ende des Tages entscheiden die Zahlen über Erfolg oder Misserfolg, am Endes des Tages werden wir an den Ergebnissen gemessen, am Ende des Tages wird Großes entstehen – ja geht’s noch? Eigentlich nicht. Aber das wird den Englisch-Brachial-Übersetzern vermutlich egal sein. Vorschlag (vielleicht klingelt’s ja dann): In 2018 würde es Sinn machen, sich am Ende des Tages mal ein paar neue Formulierungen einfallen zu lassen.

    (Im Übrigen glaube ich nicht, dass die Negativberichterstattung über die Rechtsextremen bzw. Neo-Faschisten am Aufstieg ihrer – lachhafter Weise „AfD“ genannten – Partei die Schuld trägt, sondern dass, soweit es „die klassischen Medien“ betrifft, das Übermaß der Berichterstattung diese kleine politische Splittergruppe stark gemacht hat. Es gilt ja nicht nur „Sex and Crime-„, sondern auch „Sensation sells“. Die abgefeimten Provokationen von Höcke, Runkel und Co. mochten noch so billig und stupide sein, es fand sich immer ein Schmierfink, der diesen Unfug „analysierte“, als gelte es das Leben, wo es in Wirklichkeit allein die Auflage galt. Mag sein, dass es eine gewisse Anzahl von Tölpeln gibt, die solche atavistischen Bauernfänger wählen. Dadurch werden deren abstoßende Späßchen, Dreistigkeiten und „Programmpunkte“ doch nicht besser! Auch der Mut, dummes Gequatsche als „dummes Gequatsche“ zu bezeichnen, es konsequent kenntlich zu machen und bloßzustellen – oder zu ignorieren -, wenn es sich um welches handelt, gehört zum Rüstzeug des argumentierenden Journalisten, des einzigen, der seine Leser, Hörer und/oder Zuschauer ernst nimmt – und darum auf die Dauer selbst ernst genommen wird.)

    Guten Rutsch in eine gute Zukunft!

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    • jj schreibt:

      Lieber Herr Schnell,
      Kisch stand nie zur Debatte, beim Mythos war der Rasende Reporter gemeint, das war Kisch nie, so hieß eben nur sein erfolgreichstes Buch. Kisch hat seine Geschichten bis zu zwölfmal umgeschrieben, hat seine Quellen verdeckt und einen Mythos genährt, zum Beispiel mit der Affäre Oberst Redl und wie er an die Informationen gekommen ist. Tatsächlich hat er mit einem kleinen gedruckten Dementi die Affäre ins Rollen gebracht.
      Dass Sie Wolf Schneiders „Deutsch für Profis“ beherzigen, ist schön. Der Mann ist zwar arrogant, aber seine Stil-Kritik gut.
      Das Denglisch finde ich so schlimm wie sie, nur habe ich nie vom „Am Ende des Tages“ geschrieben, das ist ungefähr so schlimm wie ,“Das Leben ist kein Ponyhof“.
      Also, auch Ihnen einen guten Rutsch. Lg hhjenckel

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