Für ein Kind der Bonner Republik lebte der Schwarze Kanal hinterm Zaun

9. November 2019

In jungen Jahren auf der Veranda unseres Bauernhauses in Melbeck mit langen Haaren.

Ich bin ein Kind der Bonner Republik. Das war für mich Deutschland. Groß geworden, als Rudi Dutschke abends in der Tagesschau durch Berlin marschierte. Gänsehaut. Ich saß im Wohnzimmer unseres Bauernhauses in Melbeck ganz vorne im Clubsessel, mit gestrecktem Hals. Hinter mir in Ohrensesseln meine fluchenden Eltern. Jeden Augenblick konnte mich jetzt die Schreckensbotschaft meiner Mutter erreichen: „Hanni, du musst zum Friseur.“ Ach wäre ich doch nur Rudi Dutschke, Ho-Ho-Ho-Chi-Minh. So war der Widerstand zwecklos.

Ich ging verzweifelt ins Bett, blickte auf Jimi Hendrix an der Schräge über mir, selbstgemalt, darunter stand jetzt: “Jimi lives!“ Und wenn ich mit meinem Beyer-Mikrophon vor unserem Fernseher hockte und sonnabends im Beat-Club „Chicago Transit Authority“ auf meinem Telefunken 4-Spur-Tonband aufnahm, kam genau dann meine Mutter mit dem Staubsauger durch die Tür und ich bekam einen Nervenzusammenbruch.

Meine Haare wurden länger. Im „Lindenhof“ meiner Tante Elisabeth an der B4 grölte der Stammtisch, wenn ich eintrat: „Herbert“, so hieß mein Vater, „da kommt deine Tochter.“ Manche boten auch Geld, damit ich zum Friseur ging. Und dass alte Grundschulkameraden mir jetzt „Exi-Schwein“ nachriefen, wenn ich in meiner geliebten gelben Öljacke durch den Ort gammelte, nahm ich als Kompliment. Ich wusste zwar nicht, was ein „Exi-Schwein“ ist, dachte aber, ich bin auf dem richtigen Weg.

Wo der Weg hinführt? Er mäanderte. Und das ging nicht nur mir so. Das war auch egal. Ich war zeitlos zufrieden und ohne Erfolgsdruck in dieser Republik, die Exportweltmeister war, sich weltpolitisch nicht einmischte, sondern das Portemonnaie zückte. Made in Germany und Fußball, das waren wir. Ich konnte studieren, eine Lehre machen, zwischen acht Stellen aussuchen.

Der einzige Berühgungspunkt zur DDR war für mich Montagabends, wenn meine Mutter im Ostfernsehen einen alten deutschen Spielfilm sehen wollte und vorher noch ein Eduard von Schnitzler im Schwarzen Kanal über die Imperialisten ironisch wetterte. Der meinte uns. Viel mehr Osten kannte ich nicht.

Selbstschussanlagen, Scheinwerfer, Zaun, Minen – die Grenze der DDR. Museum Leisterförde.

Das war so, bis mir Klaus Harries, damals noch nicht Bundestagsabgeordneter, sondern Oberkreisdirektor, Bleckede zeigte, mir bis dahin nur vom Namen bekannt, und die schönsten Wege an der Elbe, vom Schloss zum Heisterbusch durchs Deichvorland. Und auf der anderen Seite war sommers wie winters dieses eiserne graue Band, das den Blick auf die geduckten Höfe verwehrte, nur die Dächer waren zu sehen. Dahinter lag das Land des Schwarzen Kanals von Eduard von Schnitzler.

Für mich hätte das immer so bleiben können. Für Klaus Harries nicht, der glaubte an die Präambel unseres Grundgesetzes: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Ich hatte von diesem Vorwort keine Notiz genommen. Handfest waren für mich dieser schwadronierende Eduard von Schnitzler, die DDR in Gänsefüßchen in der Zeitung und die rote Gefahr. Die war gereifbar, wenn ich wenig später die Transitstrecke nach Berlin gefahren bin. Diese blutjungen Grenzer mit den eingefrorenen Minen. Was hatte ich denen getan, dass sie so starrten? Die Angst im Nacken fuhr mit, dass sie einen auf der Strecke weggreifen.

Als am 9. November 1989 dann die Mauer fiel, war ich auf Sylt. Der Fernseher lief und ich habe immer wieder gefragt: „Was soll nur werden?“ Dieser Bananen-Schoko-Regen, diese Menschenmassen auf der Mauer und an den Grenzübergängen die Trabi-Schlangen. Außer Rand und Band. Am nächsten Morgen beim Strandspaziergang habe ich mich bei manchen, die uns entgegenkamen, gefragt: „Ob das jetzt ein DDR-Bürger ist?“ Ossi war noch nicht erfunden.

Grenzöffnung

November 1989, die Menschen warten, dass der Grenzzaun endlich geöffnet wird.

Wenige Tage später war ich Teil der Wiedervereinigung. Am Wochenende 18./19. November 1989 sagte der Flurfunk, jeden Tag könne sich sich auch der Zaun an der Elbe öffnen. Mit meinem Kollegen Bernd Schumacher bin ich Sonnabend in aller Herrgottsfrühe in seinem eiskalten weißen Golf-Cabrio aufs Geratewohl nach Hitzacker gefahren. Ein kleines Fähnlein Journalisten irrte durch die Elbstadt, bis sie die MS Drawehn von Michael Breese im Hafen ausfindig machten. Da war Licht.bis sie die MS Drawehn von Michael Breese im Hafen ausfindig machten. Da war Licht. Das Fahrgastschiff saß schon im Winterschlick fest und wird mussten, kein Dutzend Journalisten und Crew-Mitglieder, durch unser Gewicht am Heck das Schiff freiwippen. Draußen, auf der Elbe, war es noch kälter, da half nur Glühwein. Der Himmer stahlblau mit Silberstreif. Und der Morgen trug die Musik der Blaskapelle Kaarßen über den Strom, die im Osten schon aufspielte.

Wir haben Stunden in Erwartungshaltung mit Lüchows Landrat Zühlke auf der Elbe verbracht, es legte auch ein DDR-Grenzboot an: Aus Ostberlin komme einfach keine klare Ansage. Rückfahrt. Erst am nächsten Tag brachte die MS Drawehn die Menschen aus Bitter, Kaarßen, Sumte, und, und, und nach Hitzacker. Mehr dankbare Menschen hat dieses Elbstädtchen nie wieder gesehen. Landrat Zühlke schlenderte mit Bürgermeister Manfred Salomon aus Kaarßen durch die Gassen – Salomon war noch sichtlich verunsichert von der neuen Freiheit. Ich bin dann am Sonntag auf die Fähre – ohne Pass. Und auf der anderen Seite hat mich ein freundlicher DDR-Grenzsoldat durchgewirkt. Bratwurst auf dem Grill, Stände, Marktfest und freier Gang durch den Zaun.

Drei Monate später bin ich mit Niedersachsen Ministerpräsident Ernst Albrecht in Dömitz angelandet und habe gesehen, was 40 Jahre Sozialismus im Sperrgebiet anrichten: Straßen wie Mullersand-Pisten, Fenster, aus den der Kitt bröckelt und die Farbe längst ins Grau gewechselt ist. Für Albrecht gab es Kunst-Kirschtorte und Rotkäppchen Sekt in der Festung Dömitz.

Nach Hitzacker wurde bald auch in Bleckede ein Fährverkehr eröffnet.

Mit Klau Harries, der anders als ich immer an die Einheit geglaubt hat, besuchte ich bald schon Schwerin, tauschte West- gegen Ostgeld, natürlich schwarz auf dem Parkplatz am Schloss. Wir konnte es nicht ausgegeben. Wir reisten später nach Görlitz, Muskau, Branitz, natürlich nach Dresden und Prag zur deutschen Botschaft. Und jede meiner längeren Radtouren hat mich in die Neuen Bundesländer geführt, immer hart am Strom mit Schleifen ins Herz der Länder. Ich war in Weimar, Gotha, Halle, Leipzig, Erfurt, Frankfurt/Oder,  in Köthen und Magdeburg. In den frühen Wendesommern in Boltenhagen und Poel, als da nichts war, später gerne auf dem Darß und an der Müritz. Ich radel durch Brandenburg und liebe Potsdam und die Seen.

Im Osten ist nicht alles Gold, gerade im Hinterland. Aber für einen wie mich, groß geworden, warm und sicher im Schoß der Bonner Republik, für den Einheit lange nur ein Wunschtraum einer kriegswunden Generation war, ist und bleibt es eine unglaubliche Geschichte, diese Hochzeit zweier deutscher Staaten und vor allem was daraus in 30 Jahren gewachsen ist.

Und wie war das bei Ihnen?

Hans-Herbert Jenckel

Über jj

Journalist, Dipl.-Kaufmann, Moderator, Lünebug- und Elbtalaue-Liebhaber
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23 Antworten zu Für ein Kind der Bonner Republik lebte der Schwarze Kanal hinterm Zaun

  1. Jo schreibt:

    Auch der Volkstrauertag ist seit dem 9. November 1989 Teil einer gemeinsamen kulturellen Praxis und Geschichte in Deutschland. Doch bei der Gedenkfeier eines Ortsverbandes in Mülheim an der Ruhr hat die SPD-Ratsfraktion gestern einen Kranz aufgestellt, dessen Trauerschleife noch während der Zeremonie abgeschnitten wurde.

    Die SPD will „den Fehler“ nun aufarbeiten:

    Links ist der Kranz mit Trauerschleife, rechts die abgeschnittene Schleife zu sehen.

    Mehr dazu hier: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/muelheim-an-der-ruhr-verschissmuss-fehler-auf-trauerschleife-spd-schaltet-anwalt-ein-a-1296952.html

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    • Gesa Kuscinszki schreibt:

      70 Jahre zuvor war man freimütiger. Plakat zur Bundestagswahl 1949:

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      • Roger Schmitt schreibt:

        Als Vogelschiss in der Parteienlandschaft musst du ja irgendwie zu Stimmen kommen. Warum nicht von den Nazis? Das Amalgam aus Großsprecherei, Täterverharmlosung und Führersehnsucht ist auch heute für manche Leute wieder eine Alternative.

        Wer hätte das gedacht, als am Wochenende vom 18. auf den 19. November 1989 die Menschen in Bitter, Kaarßen und Sumte gemeinsam mit denen aus Nahrendorf, Sarchem und Hitzacker der Freiheit entgegen bangten, mit einer Fähre hin und her über die Elbe setzen zu dürfen?

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  2. Nick Koch schreibt:

    Auch das ist (leider ein weniger schöner) Teil des Zusammenwachsens dessen, was auf jeden Fall zusammengehört:

    Holger Friedrich, der neue Verleger der „Berliner Zeitung“ war Stasi-IM
    https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-11/berliner-verlag-holger-friedrich-im-spitzel-staatssicherheit

    … und benutzt die „Berichterstattungsmöglichkeiten“ seines „Organs“ heute, um sein Vermögen zu vergrößern:

    Nachdem Friedrich zuvor ob seiner lobenden Worte zu SED-Generalsekretär Egon Krenz in einem Artikel der „Berliner Zeitung“ zum Jahrestag des Mauerfalls kritisiert worden war, legte am Freitag der „Spiegel“ nach. Das Magazin berichtete, dass in der „Berliner Zeitung“ am 8. November ein Artikel über die Erfolgsstory einer ostdeutschen Diagnostikfirma erschienen sei, ohne kenntlich zu machen, dass Holger Friedrich dort als Aktionär beteiligt ist und im Aufsichtsrat sitzt. Das Unternehmen soll ihm laut „Spiegel“ 2018 eine Vergütung von 23.000 Euro gezahlt haben. Durch seinen Anwalt habe Friedrich auf Anfrage ausrichten lassen, er sehe „gegenwärtig keine Veranlassung, sich zu geschäftlichen Interna zu äußern“. (https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/holger-friedrich-gibt-es-interessenkonflikte-bei-der-berliner-zeitung-a-1296645.html)

    Die Titanic stellt die Diagnose:

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  3. Klaus Bruns schreibt:

    Gunda Schuster, eine frage: religion war in der ddr kein schulfach, warum kommen sie als ex bürgerin auf die idee ,ausgerechnet mit religionen zu argumentieren? ich hatte religion und in der abschlussklasse als einziger in der ganzen schule eine eins, obwohl ich nie an märchen geglaubt habe. mein pastor war auch unser religionslehrer. meine fragen, die ich ihm im unterricht gestellt habe, konnte er sehr selten befriedigend für sich und meinen mitschülern beantworten. diese haben am schluss während des unterrichts immer ihre vergessenen hausaufgaben nachgeholt. da sie ja so gern attackieren, was ich auch übrigens gern mache, eine frage: warum werden kinder getauft, obwohl johannes der täufer doch nur erwachsene getauft hat?waren da etwa auch schon ,,rattenfänger“ unterwegs?

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  4. Klaus Bruns schreibt:

    „Meinungsfreiheit muss man benutzen“ und nicht seinen idealen dabei hinterher laufen. herr jenckel, meine erlebnisse 1989 haben sich so zugetragen, wie ich es geschrieben habe und sie es gelöscht haben. haben sie nicht sowas erlebt? dabei habe ich nicht mal von dem begrüßungsgeld und ihren spezialisten , die ja unsere,,armen brüder und schwestern “ waren, geschrieben. schmunzeln. zu der zeit war ich fernfahrer und durfte regelmäßig auch nach berlin fahren. ich habe die schikanen an der grenze zur ddr regelrecht,,genossen“ und meine speziellen erlebnisse mit unseren armen brüdern und schwestern gehabt. die mehrheit der ddr bürger wollte zu der zeit ihre ddr behalten und nicht durch die treuhand übernommen werden. sie träumten vom westgeld , aber nicht von einer kapitalistischen ausbeutung.

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    • Klaus Bruns schreibt:

      kommt die d-mark nicht zu uns, dann kommen wir zu ihr. ist der spruch noch bekannt?

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    • jj schreibt:

      Lieber Herr Bruns, vielen Dank für die Belehrung. Aber, das, was Sie da zuerst geschrieben haben, geht gar nicht. Das ist zum Ende raus einfach nur Tiefschlag. Lg jj

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      • Klaus Bruns schreibt:

        Meinungsfreiheit muss man benutzen“ kommt von einem herrn kleber, zdf journalist. der rest kam von mir. schmunzeln. sie wissen, ich will niemandem etwas böses. aber vereinsbrillen sind mir nun mal ein greuel.

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    • Gunda Schuster schreibt:

      Herr Bruns,

      rund 16,5 Millionen Menschen lebten im November 1989 in der DDR. Ich kannte einige, denn ich war einer von ihnen. Viele von denen, die ich kannte, litten vor allem darunter, dass wenige ihnen sagten, was jeder zu wünschen, zu wollen, ja, zu sein hatte.

      Woher wissen Sie, was „die Mehrheit“ Ihrer „Schwestern und Brüder aus der DDR“ wollte? Sind Sie nicht auch nur ein Einzelner wie jeder andere? Woher beziehen Sie das Recht für Ihre großräumigen Pauschalurteile? Nehmen Fernfahrer zwischen Reppenstedt und Berlin eine Standpunkt ein, der es ihnen gestattet, wie ein Gott, quasi wie Zeus vom Olymp, aus der Warte alle anderen zu sprechen? Ist nicht das immer noch sicherste Indiz dafür, einem Lügner und Betrüger gegenüber zu stehen, wenn einer behauptet, er wüsste, was „die Menschen“, was „der Bürger“, was „das Volk“ will?

      Einen guten allgemeinen Eindruck davon, wie weit und wie unterschiedlich die Interessen, die Motive und die Hoffnungen um 1989 herum gefächert waren, vermittelt Ihnen der etwas zu lang und etwas zu „gefühlig“ geratene, aber insgesamt gelungene Dreiteiler „Preis der Freiheit“, den Sie in der ZDF-Mediathek unentgeltlich anschauen können: https://www.zdf.de/filme/preis-der-freiheit/preis-der-freiheit-1-100.html

      Einen guten genauen Eindruck davon, was es mit dem Leben in einer Diktatur konkret auf sich haben kann, vermittelt Ihnen der Essay einer ehemals „Ostdeutschen“, heute „gesamtdeutschen“ Kollegin: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-11/meinungsfreiheit-ddr-pressefreiheit-ostdeutschland-uschi-bruening/komplettansicht

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      • Klaus Bruns schreibt:

        Gunda Schuster
        sie sollten es lassen ,mich in eine bestimmte ecke zu stellen. es gibt keine für mich, die passen würde. und als atheist, habe ich mit gott nichts am hut.

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      • Gunda Schuster schreibt:

        Sie schauen also nicht, wie das jeder andere Mensch notwendiger Weise tut, aus einer bestimmten Ecke? Haben nicht Ihre höchsteigene, ausschnitthafte, subjektive Sicht der Dinge? Dann kommt für Sie nur infrage, dass Sie entweder aus beliebig vielen bzw. allen Ecken zugleich blicken (so stellen sich die monotheistischen Religionen den Allwissenden* vor) oder aus gar keiner (was wohl allein den Toten vorbehalten ist, die aber gewöhnlich nicht mehr erzählen können, wie sich das anfühlt).

        * In die Wissenschaftsgeschichte ist ein derartiger, an die Beschränkungen menschlicher Perspektiven nicht gebundener Kopf als „Laplacescher Dämon“ eingegangen. Sein Namensgeber, der Marquis Pierre-Simon Laplace behauptete in seinem „Essai philosophique sur les probabilités“ von 1814 : „Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.“

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  5. Kirsten Wilhelm schreibt:

    Schier endloser Stau in Richtung Westen: Zahlreiche DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger waren am Morgen des 10. November 1989 auf der A115 unterwegs, um über die Grenze nach West-Berlin zu fahren. Wie auf dem Bild zu sehen, stiegen manche Leute aus, um sich die Beine zu vertreten. Auf der Gegenfahrbahn ging`s Richtung Osten. Dahin wollte niemand. Merkwürdig, oder? „Angepasste Intellektuelle“ (Roland Tichy), „Meinungskorridore“ (Uwe Tellkamp), „Denkverbote“ (Alice Weidel), „Volksverderber“ (Björn Höcke) und „Lügenpresse“ (Lutz Bachmann) waren, scheint es, schon vor dreißig Jahren von unwiderstehlicher Anziehungskraft:

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  6. Hans Georg Grzenia schreibt:

    Lieber Hans Herbert, bis auf die Radtouren und die Kontakte mit den Politikern habe ich es genau so erlebt. Schulterlange Haare, Telefunken Tonband etc danke für die genaue Beschreibung der Zeit

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  7. Klaus Bruns schreibt:

    das foto ganz oben, sehr feminin herr jenckel, schmunzeln. ich habe zu der zeit minipli getragen. beim bund kam der haarerlass. als ausbilder hatte ich da so meine freude, besonders dann , wenn es in die gaskammer ging. raucher waren besonders betroffen. sie hatten ja immer zigaretten dabei. schmeckten nach dem ,,gaskammerbesuch“ besonders. schmunzeln. und die augen haben getränt , tja, so ein bart hält eben die gasmaske nicht dicht.

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  8. jj schreibt:

    Das schreibt Lüneburgs Gitarren-Legende Dieter Borchardt auf Facebook:
    „Ich war in der Woche nach der Maueroffnung dienstlich 4 Tage in Berlin, da die Reise schon Wochen vorher geplant war waren wir sozusagen Zeitzeugen vor Ort… irre Stimmung herrschte da👍„

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  9. Stefan Gärtner schreibt:

    Sie sitzen auf der Freitreppe Ihres Bauernhauses, Herr Jenckel. Haltung und Kostümierung (Haartracht, Spitzkragentrikot, Bell-Bottom Pants und Holzclogs aus Schweden) deuten auf den EM-Sommer 1972 hin. (Uschi Nerke und der Beat-Club verschwanden im Dezember 1972 aus dem Programm von Radio Bremen.) In Ihren Händen halten Sie ein Buch: Früh hat sich hier (noch auf der unteren Stufe) einer von Lüneburgs führenden Intellektuellen auf dem Siegerpodest eingerichtet.

    Allzuviel hab ich im Leben leider nicht gelesen, und vielleicht war selbst das zuviel. Gremliza, Hacks, Schernikau, Dath – hätt’ ich all das beiseite gelassen, ich müsst’ mich nicht immerzu wundern: darüber etwa, dass mir aus Tagesthemen und Heute-Journal in der Mauerfalljubiläumswoche unablässig das Wort „Freiheit“ entgegenstürzt, während der Rewe-Supermarkt jetzt „Tafel-Tüten“ an der Kasse stehen hat: Für fünf Euro kann man einem sog. Bedürftigen eine Papiertüte mit Tiefkühlpizza und Schokokeks der hauseigenen Ja!-Marke schenken, weil staatliche Daseinsvorsorge durch Caritas und Almosenprinzip ersetzt worden ist. Auch fiele mir, hätte ich nicht soviel Mist gelesen, die wunderbare Doppelseite in der wunderbar liberalen „Süddeutschen“ nicht auf: Links, auf der Seite zwei, eine ganze Seite zum Hartz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach im Sinne des ALG II straffällig Gewordenen nicht mehr bis zu 100 Prozent (!) des Allernötigsten gekürzt werden dürfen, sondern nur mehr 30; gleichwohl: „Die Karlsruher Richter billigen das Prinzip der Hartz-IV-Gesetze: Jobcenter können Leistungen kürzen, wenn jemand nicht mitzieht“ (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/hartz-iv-sanktionen-urteil-kommentar-1.4668328).

    Direkt nebenan auf der Seite drei dann wie bestellt und gleichfalls ganzseitig: „In der DDR-Diktatur wurden Schüler verfolgt – wegen ihres Glaubens oder weil sie sich nicht anpassten“ (https://www.sueddeutsche.de/politik/mauerfall-brief-ddr-diktatur-schueler-verfolgung-1.4669372?reduced=true). Hätte ich, noch einmal, nicht gelesen, was ich gelesen habe, ich dächte mir nichts dabei: dass im freien Westen mit Billigung des höchsten Gerichts Leute staatlich geschurigelt werden, weil sie nicht mitziehen, und dass man im unfreien Diktatur-Osten Leute geschurigelt hat, weil sie nicht mitzogen; bloß dass sie im einen Fall nicht beim Kapitaldienst mitziehen (können), im anderen sich weigerten, jenen Christenglauben zu verleugnen, der nach dem Sieg des christlichen Abendlands reaktionäre Stimmungskanonen wie Göring-Eckart (Hartz IV ein „Bewegungsangebot“) und Joachim Gauck (Bundeswehr in alle Welt) ins Rampenlicht gerollt hat. Christlichen Schülern in der DDR wurde „Staatsfeindschaft“ vorgeworfen, mithin die feindlich-negative Einstellung zur Überzeugung, genau solche Leute dürften nie mehr etwas zu sagen haben; dass sie’s heute haben, verbaut nicht mehr jungen Christen die Zukunft, sondern anderen.

    Eine, die die Zukunft anders haben wollte, sitzt heute im glücklich befreiten Osten auf der Couch und quält sich, weil sie damals Kommunistin war: „Ich habe sogar die Mauer verteidigt“ (https://www.sueddeutsche.de/autoren/renate-meinhof-1.1143305). Das war schlimm, wenn man heute pensionsberechtigt im Warmen sitzt (Moral, schreibt Schernikau in der frisch wiederaufgelegten „Legende“, ist eine Folge der Fernheizung (https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/945), könnte heute aber etwas weniger „fanatisch“ (Selbsteinschätzung der Lehrerin) dünken, wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich mal wieder ein Stückchen weiter geöffnet hat und das im Fernsehen kommt und sich nicht trotzdem nichts ändert, sondern gerade deshalb. Aber es ist natürlich auch vieles besser geworden, denn als DDR-Journalistin hätte die Renate Meinhof bloß blind reproduziert, was sich in die allgemeine Auffassung fügt, statt kritisch-widerständig nachzuhaken: „Hat man Kinder für eine Idee geopfert? ,Ja, natürlich’, sagt sie (…). So wurde Stefan Gerber geopfert, und Tausende andere wie er.“

    Der Hartz-IV-Regelsatz für Schulkinder beträgt 339 Euro. Jedes fünfte Kind in der BRD ist arm, vermutlich Hunderttausende haben noch nie etwas von irgendeiner „Mauer“ gehört. Wer Gremliza, Hacks, Dath oder Spoun („Durch Coaching Führungsqualitäten entwickeln: Kernkompetenzen erkennen und fördern. Versus, 2012“) gelesen hat, mag finden: So werden Kinder geopfert, für eine Idee, deren unübertrefflicher Vorteil es ist, nicht von Marx, sondern von Bertelsmann zu stammen.

    * * * * * * * * * * * * * * * *

    PS:

    Karl-Eduard von Schnitzler verstand sich als Medienkritiker (Vgl.: https://www.youtube.com/watch?v=lyZFqbAN8SQ). In seinen Sendungen legte er den Finger auch tatsächlich in schwärende „Wunden“ des verfeindeten Westens. „Der schwarze Kanal“ startete am 21. März 1960. Er war eine Antwort auf die zwischen 1958 und 1960 im Abstand von drei Monaten von der ARD ausgestrahlten Fernsehsendung „Die rote Optik“, in der Thilo Koch, der Leiter des West-Berliner Studios des Norddeutschen Rundfunks, Ausschnitte aus Sendungen des DDR-Fernsehens als Propaganda analysierte. Der Titel war eine Anspielung auf diese Sendung. Schnitzler selbst äußerte sich zu Beginn der ersten Sendung über sein Vorhaben wie folgt:

    „Der Schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unflat und Abwässer; aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müßte, ergießt er sich Tag für Tag in hunderttausende westdeutsche und Westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: Der Schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde [vor 22:00 Uhr] widmen, als Kläranlage gewissermaßen.“ (Vgl.: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/karl-eduard-von-schnitzler-das-ende-vom-schwarzen-kanal/10887318-all.html)

    In späteren Jahren galt wegen seiner ähnlich agitatorisch-polarisierenden Wirkung das zwischen 1969 und 1988 ausgestrahlte ZDF-Magazin mit Gerhard Löwenthal als Pendant. Löwenthal und Schnitzler lieferten sich zwei Jahrzehnte lang Vorlagen für ihre politische Agenda. (Vgl: https://taz.de/!1263341/)

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  10. Andreas Janowitz schreibt:

    Am Freitag morgen sagte unser Geschichtslehrer: „Kinder, wir erleben Geschichte!“
    Die darauffolgenden Wochen war das Klopapier ausverkauft.

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    • Wolfgang Obermann schreibt:

      Saubere Ironie des historischen Materialismus! Oder?

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      • Andreas Janowitz schreibt:

        Jahre später klärte mich ein desilusionierter NVA Horchposten aus dem Harz auf:
        das Kombinat „Arschhobel“ gestaltete eben jenes Hygieneutensil derart, dass auch der Allerwerteste rot würde. ^^

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