
Erst näherte sich am Morgenhimmel dieses gewaltige Teppichklopfer-Geräusch, dann tauchten die Hubschrauber mit ihren gleißenden Scheinwerfern am Horizont auf, direkt über dem Zug. Mit dieser Mischung aus Science-Fiction und Apokalypse Now begann im Wendland am 24. April 1995 der erste Castor-Transport nach Gorleben. Ich hatte Stunden darauf am Gleis vor der Verladestation gewartet. Jetzt wurde mir mulmig.
Es war der Beginn für die größten Polizeieinsätze der Nachkriegsgeschichte und des zähen Widerstandes im Wendland, von Polizeikesseln, Schlagstöcken, Wasserwerfen, Katze- und Mausspiel, untertunnelten Straßen, Treckerblockaden und gewaltigen Demonstrationen auch im nahen Lüneburg. All das gehörte zum Repertoire der Gorleben-Proteste.
Der Zug rollte in den hoch umzäunten Verladebahnhof. Stunden stand er dort. Und was man heute kaum glauben mag, ich habe die Lamellen des Castors angefasst, um mich zu vergewissern, dass er heiß war. Heute weiß ich, dass war naiv bis dämlich. Zu dem Zeitpunkt war das Verhältnis zur Polizei noch entspannt. Da war auch nicht ganz klar, was kommt. Der Lkw, mit dem der Castor nach Gorleben gezogen wurde, war mit Seife eingecremt, damit ihn niemand stürmen kann.
Es war die Overtüre zu einem langen Tag. Auf der Wiese vor der Esso-Tankstelle in Dannenberg liefen die Fäden des Widerstands zusammen. Da stand ein Bulli, darin saßen meistens Wolfgang Ehmke und Rebecca Harms, zwei Köpfe des Atom-Widerstands im Wendland. Ich weiß gar nicht, ob die in der Nacht überhaupt geschlafen hatten.
Unweit der Esso-Wiese suchte ich bei einem der vielen Geteckel zwischen Polizei und Demonstranten Schutz hinter einem Polizei-Fahrzeug – neben mir die grüne Europa-Abgeordnete Undine von Blottnitz. Steine flogen. Dann öffnete die Dame ihre Handtasche, holte einen Eispickel raus. Ich kniete unversehens Schulter an Schulter neben dem Widerstand. Die Luft war raus.
Polizei-Kessel, Räumen von Blockaden, Kundgebungen, Waldspaziergänge, Gottesdienst, Trecker-Blockaden, Gummiknüppel und über allem im Dauereinsatz diese Hubschrauber, die fliegenden Augen der Polizei. Das Geräusch war die Begleitmusik. Die Straßen zwischen Dannenberg und Gorleben waren weiß-grün gesäumt. Vor dem Zwischenlager waren Pferdestaffeln postiert. Und wenn es „Schlagstock frei“ hieß, und ich mich im Rückwärtsgang in Sicherheit brachte, dachte ich nur: “Jetzt nicht stolpern.“ Die Szenen verfolgten mich bis in die Träume.
Die Wasserwerfer, die später bei Transporten eingesetzt wurden, waren natürlich effektiver: „BePo marschiert, Wasserwerfer, Marsch.“ Mich hat beim Transport 1996 ein Strahl getroffen auf einem Acker unweit von Splietau. Es war ein Schlag, ich lag auf dem Acker und dachte mir, das ist wie Krieg. Die Umfriedung des nahen Friedhofes an der Straße war nach dem Castor-Durchzug und den Jagd-Szenen nicht mehr zu erkennen. Und als schon alles vorbei war, landete ein Hubschrauber mit Spezialeinheiten auf dem Acker, um die Reifen der Trecker des bäuerlichen Widerstandes platt zu machen.
Ich trug Stunden das schwere Foto-Equipment von Andreas Tamme die Transport-Straße lang. Und unvergessen ist mir ein Polizist, der allein auf einem Acker stand und von Castor-Gegnern attackiert wurde. In seiner gepanzerten Ausrüstung und mit Helm sah er aus wie ein Trooper aus Star Wars. Und so unwirklich waren diese ganzen Scharmützel, die sich unweit von Lüneburger abspielten, in einem Landstrich, in dem sich breite Schichten der Bevölkerung mit dem Widertand solidarisierten, der im Kern friedlich und unglaublich hartnäckig war.
Der Castor hat sein Ziel viele Stunden später erreicht, aber klar war an diesem späten Nachmittag um 17.12 Uhr, als sich die Eingangstore des Zwischenlager hinter dem Lkw schlossen: einfach wird es nie.
Gorleben ist nicht mehr auf der Shortlist möglicher Atommüll-Endlager – das ist eine späte Genugtuung für die Castor-Gegner im Wendland.
Hans-Herbert Jenckel
Foto: Fotograf Andreas Tamme hat diese Szenen beim Castor-Protest 1996 beim zweiten Transport nach Gorleben fotografiert – es waren Szenen wie im Bürgerkrieg.
Nur noch 7 Tage (bis zum 11. Mai 2025 um 20:15 Uhr) unentgeltlich online: Die Verlegerin
Ein filmisches Gleichnis über die demokratieerhaltende Notwendigkeit integrer, wahrhaftiger sowie mutiger Journalisten und Verleger (w, d, m).
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Im Herbst 2020 begann die erste Phase der neuen Endlagersuche. Am 28. September veröffentlicht die „Bundesgesellschaft für Endlagerung“ den sogenannten „Zwischenbericht Teilgebiete„. Diese „Teilgebiete“ kommen aus geologischer Sicht als Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle infrage. Aber was heißt das? Wie und von wem wurden diese Gebiete ausgewählt? Was passiert nun? Und was halten die Atomkraft-Kritikerinnen und -Kritiker vom neuen Verfahren? Wie gehen andere Länder mit der Herausforderung um? Und wie gefährlich ist dieser Müll überhaupt?
Antworten liefert der Podcast „Auf Endlagersuche. Der deutsche Weg zu einem sicheren Atommülllager“ der Bundeszentrale für politische Bildung. Hier geht es zu den bisher 14 Folgen (Dauer zwischen 30 und 45 Minuten).
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Vom ersten Castor-Transport nach Gorleben vor genau 30 Jahren sind mir zwei Ereignisse besonders fest in Erinnerung geblieben: Die Blockade vor dem Castor-Verladekran bei Breese/ Marsch und die Ankunft des Castors – es war tatsächlich nur ein einziger – im Zwischenlager.
Es war ein schöner Frühlingsmorgen mit Sonnenschein, aber frostigen Temperaturen. Mehrere Tausend Demonstranten saßen auf der Kreisstraße zwischen der B191 und dem Verladekran. Während der stundenlangen Blockade verbrachte ich auch einige Stunden auf dem kalten Asphalt. Als die Polizei irgendwann ankündigte, die Demonstranten von der Straße zu räumen, stand ich auf. Damals kursierte unter den Protestierern ein Gerücht, dass Magdeburger Bereitschaftspolizisten dafür eingesetzt werden, die als wenig zimperlich im Umgang mit Demonstranten galten. Bei der Räumung und dem Einsatz der Wasserwerfer entstanden ikonische Fotos vom Vorgehen der Polizei, an die sich wohl die meisten Menschen, die damals vor 30 Jahren am Verladekran dabei waren, erinnern können: junge Atomkraftgegner, die sich mit ausgebreiteten Armen dem Strahl des Wasserwerfers entgegenstellten, oder andere, die von den Beamten an den Haaren aus der Blockade gezogen wurden.
Bei der Einfahrt des Castors ins Zwischenlager stand ich hinter der Absperrung auf der anderen Straßenseite. Auf einmal ging ein Anzugträger mit Aktenkoffer und akkuratem Scheitel auf die Polizisten zu, die die letzten Meter des Atommülls absicherten. Er gab sich als Vertreter der Atomindustrie aus und dankte den Beamten für ihren tagelangen und letztlich erfolgreichen Einsatz. Zunächst wirkten die Demonstranten und die Polizisten verwirrt, konnten diesen Auftritt nicht einordnen. Doch schnell stellte sich heraus, dass er satirisch war.
Vor kurzem erzählte mir Willem Wittstamm, um den es sich bei dem vermeintlichen Industrievertreter handelte, wie es zu dieser Aktion vor dem Zwischenlager gekommen war. Wittstamm sei damals direkt von der Cebit in Hannover gekommen, wo er einen Messeauftritt moderiert hatte. Dort habe er sich vor der Abfahrt noch schnell Give-aways wie Kugelschreiber und Einkaufswagenchips eingesteckt. Die habe er dann vor dem Zwischenlager an einige Polizisten als Dankeschön für ihren Einsatz verteilt. Wittstamm erinnerte sich, dass sich einige der Beamten weggedreht hätten, andere hätten jedoch geschmunzelt.
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Es war wohl ein Castor , der stundenlang eingehaust wie in einer Hundehütte da stand. Und vor dem Zwischenlager bleibt mir die berittene Polizei für immer im Gedächtnis. PS: Die Magdeburger waren fürs Grobe 🙂
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Wie kam es zu dem bis heute herumgetratschten Gerücht, dass gerade die Magdeburger Bereitschaftspolizisten „fürs Grobe“ bekannt gewesen seien? Lässt sich das anhand von erfassten Fallzahlen belegen? Waren „die Magdeburger“ aus dem Jahr 1995 „die Pappenheimer“ Wallensteins von 1625? Waren sie im imaginativen Vorgriff auf „das Modell Putin“ unserer Tage sozusagen „die Nordkoreaner“ des damaligen MP und späteren Putin-Getreuen Gerhard Schröders? Oder spielen in jenes hartnäckige BI-„Narrativ“ immer noch die bekannten Wessi-Reppenstedter Voreingenommenheiten gegen bananenversessene „Ossis“ hinein? Braucht die Generation der Aktiven von damals inmitten ihrer durch „gewaltige Teppichklopfer-Geräusche“ und verwirbelten Pulverdampf getrübten Francis Ford Coppola-Phantasien das identifizierbare Böse, die rohen Anti-Helden, unter deren flächendeckend herumsausenden Gummiknüppeln „man“ mit wendiger Bauernschläue hindurchtauchte?„Jaa, ha ha haa, wenn der Senator erzählt, …“ ?
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Gertrud Hölscher lesen bildet
https://www.welt.de/print-welt/article635082/Streit-in-Magdeburg-ueber-Castor-Einsatz.html
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Da sind Sie ja wieder, Herr Bruns!
Der von Ihnen verlinkte Artikel beschäftigt sich nicht mit dem hier in Rede stehenden ersten Transport (per Bahn bis zur Verladestation Dannenberg, dann auf LKW über die Straße in das Zwischenlager Gorleben) vom 25. April 2025, sondern mit dem dritten Transport vom 5. März 1997.
Das war in allen relevanten Hinsichten der bis dahin größte Atommülltransport in der Geschichte der Bundesrepublik. Zur Begrenzung der Multimillionen-Kosten kam der Castor gleich im „Sechser-Pack“. Drei Atommüllbehälter aus dem Kernkraftwerk Neckarwestheim (Baden-Württemberg), einer aus dem Kraftwerk Gundremmingen (Bayern) und zwei aus La Hague wurden auf dem Gelände eines Kohlekraftwerks im baden-württembergischen Wahlheim zusammengekoppelt und in das Zwischenlager gebracht. Der erste Castor-Transport (siehe jj) wurde auf dem letzten Abschnitt im Landkreis Lüchow-Dannenberg von 4.000 Demonstranten und 7.600 Polizisten, der dritte schon von allein 30.000 Polizisten begleitet.
Wie gelangen Mythen in Tüten? Ich zitiere Ihren Artikel vom 13. März 1997:
Zu Herrn Jenckels Hitze-Erlebnis beim Anfassen des Castor-Metalls stand etwas Beunruhigendes in der Zeit vom 28. Mai 1998.
In den darauffolgenden Wochen wurde veröffentlicht, dass „man“ im Umweltministerium und der zuständigen Abteilung für Strahlenschutz unter Leitung von Gerald Hennenhöfer seit Jahren von den erhöhten Strahlenwerten wusste. Dieser als Kontaminationsskandal bezeichnete Umgang mit der Atommüllfracht wurde weit über die Anti-Atomenergie-Bewegung hinaus kritisiert. So sprach etwa die Gewerkschaft der Polizei von menschenverachtendem Verhalten.
Im Januar 2000 wurden die Castor-Transporte dann unter dem Grünen Umweltminister Jürgen Trittin wieder aufgenommen.
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Rebecca Harms, die frühere Grünen-Fraktionschefin im Landtag und danach Grünen-Abgeordnete im EU-Parlament, zeitweise dort auch Fraktionschefin, ist im Januar vor zwei Jahren von SPD-Ministerpräsident Stephan Weil mit der niedersächsischen Landesmedaille ausgezeichnet worden.
Ist sie mit Ingeborg Harms, der entschlossenen, mittlerweile in Berlin lebenden Anti-Brücken-Aktivistin aus Neu Darchau verwandt?
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Die Kraft des Widerstandes ist bestimmt etwas Feines, — für alle, die stets sicher zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wissen.
Nur, Ihre Erweckung fand vor dreißig Jahren statt. Was ist inzwischen aus dieser Kraft geworden?
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Ich habe berichtet und richte nicht 😇
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