Abstimmung mit den Füßen, aber ohne Tüten

Straßencafés am Sand.

Es ist Frühling und Lüneburg läuft langsam über vor Besuchern. Aber Gäste und Einheimische tragen zu wenig Einkaufstüten mit sich rum. Sie kaufen zu wenig, klagen die Gralshüter des Handels. Diese Mahner erkennen nicht, wenn man so will, es läuft gerade eine Abstimmung mit den Füßen, aber ohne Tüten. Und ganz ehrlich, Pop-Up-Stores in verwaisten Geschäften sind nett, aber Placebos gegen den Wandel der Innenstadt. Und der hat mehr als einen Grund. 

Lüneburg häutet sich, und der Markenkern dieser Stadt wird konturierter. Die Besucher kommen nicht wegen irgendwelcher Filialisten in 1A-Lagen, die es genauso in Goslar oder Oldenburg gibt. Sie kommen, weil Lüneburg Charme und Geschichte hat, weil ein Latte Macchiato unter Giebeln einfach nach Lebensqualität schmeckt. 

Kurzum: Lüneburg rühmt sich ja schon ewig mit der zweitgrößten Kneipendichte Europas oder so, jetzt ist die Hansestadt auf dem besten Weg. Lüneburg ist mehr und mehr eine Touristenstadt, und das wird als Erwerbszweig immer wichtiger. Hotels und gastronomische Angebote kommen kaum hinterher. Mehr als 700.000 Übernachtungen 2023 im Kreis, ein dickes Plus von vier Prozent zum Vorjahr bei den Übernachtungen, berichtet die LZ.

Und diese Abstimmung mit den Füßen geht weiter. Ein Indikator ist die Gesellschaft, die älter wird. Aber die Rentner 2.0 sind viel mobiler und Reisen steht ganz oben auf ihrer Agenda. Zweiter Indikator: Der explosionsartige Anstieg der Wohnmobile. In den letzten Jahren hat sich die Zahl verdoppelt. Ein Blick auf die Caravan-Parkplätze an den Sülzwiesen reicht, um den Trend zu bestätigen. 

Unlängst traf ich zwei Berliner an der Brausebrücke im Wasserviertel, die so glücklich waren, in Lüneburg eine Rast eingelegt zu haben:  „Was für eine schöne Stadt.“ Da sage ich mal: genau. 

Giebel, Gassen, tolle Stadtführer, grandiose und gruselige Geschichten, Legenden und natürlich Salz und noch mal Salz spülenviele Millionen in die Stadtkasse und schaffen für Dienstleister Arbeitsplätze. Gerade machte das überaus erfolgreiche „Mälzer“ am Fischmarkt in 1A-Lage die Lüner Mühle wieder auf. Am 1. Mai war kein Platz frei wie im ganzen Wasserviertel. Das ist Urlaubsgefühl. 

Mälzer-Eröffnung am Stintmarkt. (Foto: Karin Greife)

Jetzt kommen natürlich die Tüten-Propheten. Und da sage ich: Die Stadtverwaltung inklusive Marketing kann die Lebenswelt in die Fußgängerzonen zurückholen, die lange als geschützte Konsumzonen für mehr Umsatz und mehr Gewinn standen. 

Schauen wir mal in die Toskana-Städte,  da darf keiner nach Senia oder San Gimignano auf den Markt düsen wie an Wochenenden in Lüneburg. Und schon gar nicht in Florenz. Weiträumig abgeschirmt mit Shuttle-Service. Und trotzdem sind die Besucher da. Und trotzdem gibt es viele kleine Geschäfte. Aber eben auch unglaublich viel Geschichte. PS: Venedig nimmt jetzt Eintritt, an elf Tagen fast eine Million Euro für die Stadtkasse. 

Die Touristen dürfen nur nicht zur Last für die Bürger werden wie auf den Kanaren oder eben in Venedig. Doch genau da kann die Stadt wunderbar gegensteuern, ohne die Einheimischen zu treffen. Im Zeitalter der Digitalität, der Erfassung von Kennzeichen mit Kameras auf Parkplätzen alles kein Problem. Das sind Einnahmequellen, die schnell sprudeln. 

Wir müssen also gar nicht auf die Bremse drücken, sondern die Innenstadt tatsächlich mit mehr Aufenthaltsqualität versehen und den Tourismus über den Preis steuern. 

Dass die Mitte der Stadt freizuhalten ist als Konsumzone, ist von gestern. Wie stand es jüngst in der FAZ am Sonntag: „Die westdeutschen Fußgängerzonen waren kommerziell zunächst so erfolgreich, dass sie bald ihre Wiedergänger in Gestalt von Einkaufszentren auf dem freien Feld hervorbrachten, die sich mit der Zeit als ihre Totengräber herausstellen sollten. Auf mehreren Etagen unter einem Dach simulierten die Malls die von Markengeschäften gesäumten Outdoor-Bummelwege, entkleideten sie alles verbliebenen historischen Beiwerks und konzentrierten sie so auf ihre Substanz, das reine Shoppen.“

Dass Lüneburg auch weiter als Einkaufsstadt dagegenhalten kann und viel Potenzial hat, beweisen kreative Händler wie Ralf Elvers und die vielen, vielen kleinen und individuellen Geschäfte der Innenstadt, ob an der Heiligengeiststraße, der Schrangenstraße, an den Brodbänken/Rosestraße, Am Berge, Auf dem Kauf oder an der Rackerstraße. Klagen und Schutzwälle gegen Outlets und Online helfen nur kurzfristig, halten den Wandel aber nicht auf.

Die Ausweitung der Straßencafés ob am Sand, in der Schröderstraße oder am Stint habe auch ich schon als Gentrifizierung angeprangert. Vielleicht auch etwas kurzsichtig. Richtig ist, dass die Stadt hier mit geschmackvolle, kostenlosen Sitzplätzen, nennt sie meinetwegen grüne Oasen, gegenhalten kann. 

Aber auf dem Markt bitte nur Bänke und Stühle, kein Kraut zu den Füßen von Frau Luna. 

Hans-Herbert Jenckel

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Journalist, Dipl.-Kaufmann, Moderator, Lünebug- und Elbtalaue-Liebhaber
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5 Responses to Abstimmung mit den Füßen, aber ohne Tüten

  1. An Touristinnen und Touristen werden demnächst neue Lüneburg Konsumenten-Tüten mit Profit-Pegel, vor Geschäften der Innenstadt verteilt, so sollen die Käuferinnen und Käufer an Ort und Stelle nachprüfen können, ob sie ihrer Pflicht als moderne bekennende Lüneburg Toüristen- Konsumenten bereits genügt haben. Denn die Last der Verantwortung für das Funktionieren unserer Stadt haben die UnternehmerInnen mit auf ihre Schultern genommen. Die Touristen-Konsumenten müssen daher durch Mut und Entschiedenheit mit ihrem massiven Konsumieren dafür sorgen, dass die Innenstadt überleben wird. Um so eine lebendige Innenstadt bei ihrem nächsten Besuch wieder vorzufinden.

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  2. Avatar von Anne König Anne König sagt:

    Kalenderblatt | 10. Mai 1872 * Marcel Mauss

    Man muss das Unbekannte enthüllen.

    Marcel Mauss, französischer Soziologe und Ethnologe (1872-1950)

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  3. Avatar von Norbert Meyer Norbert Meyer sagt:

    Eine ziemlich einseitige Sicht der Dinge. Die Stadt als Animationskulisse für betuchte und konsumfreudige Silberrücken. Zwar wird Lüneburg nicht mehr so unverhohlen wie während der Mädge-Jahre als Zitrone gesehen, die es nach Kräften zu pressen gilt, also einfach als ein schnödes „Kaufhaus“ betitelt und behandelt, aber vor allem muss der Rubel rollen.

    Wo bleibt hier die Kultur, Herr Jenckel?

    Die spielt für Ihre wohlgeöhlte Wohlstands-, Wohlbekomms- und Wohlfühlmaschine interessanterweise keine Rolle. Wohlgefallen ist Ihnen ein geldwerter Deko-Effekt des Attraktions-Portfolios von Marketing-Trappern. Dabei sind Theater, Museum, Galerie, Musik- und Hochschule im Zusammenhang von Wohlgestalt und Wohlgedeihen sonst doch immer die entscheidenden Komponenten für den allgegenwärtigen Leuchtturm mit Magnetwirkung – so schwer er sich im Übrigen auch fassen lässt. Kultur ist das, was die Menschen zusammenhält, was ihr Einverständnis mit ihrer jeweiligen Umgebung ausmacht und begründet. Kultur ist der Indikator für inneren und äußeren Wohlstand schlechthin. Müsste man also die Zahlen von Theaterpremieren, Konzertaufführungen oder Museumsbesuchen nicht mit den Zahlen zur Entwicklung der Artenvielfalt, zu den vertilgten Quantitäten der Kotteletts vom Iberico Schwein und zum Stickstoffkreislauf in der Landwirtschaft kombinieren, um der Wahrheit über das Wohlbefinden eines urbanen Gemeinwesens näherzukommen?

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    • Avatar von jj jj sagt:

      Lieber Herr Meyer,
      wenn Sie den Blog verfolgen, dann wissen Sie, dass hier für die Kultur gekämpft wird, ob Theater, Musik, Baudenkmäler, Luna-Säulen. Die Kultur ist das Sahnehäubchen. Und nirgends weit und breit wird mehr Kultur geboten als in Lüneburg und zunehmend im Umkreis, ob in Reinstorf, in Lehmgrabe bei Hans Seelenmeyer, im Vakuum in Bad Bevensen, in Tosterglope, in Ventschau oder Dahlenburg. lg jj

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      • Avatar von Ulrike Surbier Ulrike Surbier sagt:

        Bitte Kino und Fernsehen nicht vergessen! Kultur ist nicht nur für die High Brow-Schickeria aus Reppenstedt.

        „Lüneburg spielt weiter die Hauptrolle in einem Stück deutscher TV-Geschichte. Das freut mich für die Hansestadt, für die Fans der Roten Rosen und für die Mitarbeitenden der Produktion, die einen guten Arbeitsplatz in unserer Stadt haben. Persönlich würde ich mich über ein Serien-Comeback von Gerry Hungbauer freuen. Unser norddeutscher Münchner gehört einfach dazu…“ — Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch

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