Happige Gastro-Tour für LG-Touristen

Lüneburg ist eine Touristenstadt. Place to be. Der Ruf hallt durchs Land. Wer zwischen Stint, Sand und Kalkberg unterwegs ist, verliebt sich in die Salzstadt. Nur die oft happigen Preise in der Gastro-Szene liegen schwer im Magen.

Mehr als sechs Millionen Tagestouristen, immer neue Rekorde bei den Übernachtungen. Lüneburg liegt im Trend. Das ist gut für die Wirtschaft. Aber Touristen vergleichen auch. Und da erreichen mich jetzt beunruhigende Nachrichten aus Frankfurt, Stuttgart und Erlangen. 

Ein Alt-Lüneburger, der in Frankfurt arbeitet, immerhin der Banken-Hotspot, erzählt beim Plausch auf dem Marktplatz, dass er sich über die exorbitanten Preise in der Lüneburger Gastronomie wundere, da komme Frankfurt nicht mit. Lüneburg sei ja nicht Paris oder München oder Genf.

Und wir schreiben hier nicht von der Spitzengastronomie wie Röhms Deli, das dazu noch einen Mitttagstisch anbietet, bei dem das Preis-Leistungsverhältnis fünf Sterne verdient. Wir schreiben von Lokalen, wo Touristen an den historischen Meilen gerne einkehren.

Eine Bekannte kam jetzt aus Stuttgart wieder. Da dachte ich, die erzählt mir, wie teuer die Schwabenmetropole sei. Das Gegenteil war der Fall. Und dann besucht mich meine Schwiegermutter und berichtet von Erlangen, wo sie herrlichen und reichlich Spargel mit Hollondaise und Kartoffeln genossen habe – für 15 Euro. Da sucht der Gast an der Ilmenau lange. 

Gefährlich wird es, wenn die Mundpropaganda anspringt und Lüneburg, die alte Salz- und Rote-Rosen-Stadt, auch das Image als teures Pflaster für Touristen bekommt.

Das ist umso gefährlicher, als die Zeiten des Kaufhauses Lüneburg auslaufen und andere Qualitäten in der Innenstadt gefragt sind. Das wurde gerade auch auf der Stadtkonferenz benannt, das erklärt der Städtetag regelmäßig. Die Aufenthaltsqualität, also mehr Bänke, Grün, Kultur und Kommunikation und gute Gastronomie gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. 

Und Lüneburg hat einen Ruf zu verteidigen bei Google als Stadt mit der höchsten Kneipendichte im Land. Da darf nicht der Makel „zu teuer“ hintenan gepappt werden.

Unterm Strich hat die leidige Parkplatz-Debatte auf Dauer nicht die Sprengkraft wie zu hohe Gastro-Preise. Natürlich spielen die hohen Mieten in Lüneburg eine Rolle. Doch langfristig gedacht wäre vielleicht Mäßigung ein Gebot, sonst geht der Trend mittelfristig womöglich zur Auf-die-Hand-Mahlzeit oder zum Picknickkorb in den „Grünen Oasen“ und den Bänken in der Innenstadt. Damit ist keinem Lokal gedient.  

Angemerkt sei am Ende auch im Sinne fröhlicher Touristen: Der Vorstoß des Grünen Pascal Mennen, Ampelmännchen abzuschaffen und gegenderte Piktogramme zu nutzen, geht eher ins Idiologische. Warum nicht Kran oder ne lustige Salzsau, wie das Lüneburger bei einer Straßenumfrage angeregt haben? Das schafft mehr „Schau-mal-da-Effekte“ so wie in Emden die Otto-Ampel. Aber grün bleiben die Motive, was will Mennen mehr. 

Hans-Herbert Jenckel 

Foto jj: Der Stint gehört zu den Lieblingsmotiven der Touristen.

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Journalist, Dipl.-Kaufmann, Moderator, Lünebug- und Elbtalaue-Liebhaber
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10 Responses to Happige Gastro-Tour für LG-Touristen

  1. Avatar von Anne König Anne König sagt:

    Auch ehemalige Lüneburger können Liebhaber der hansestädtischen Gastrotour erfreuen. Zum Beispiel Herr Tilmann Lahme, der vom 1. Mai 2014 bis zum 30. April 2019 die Professur für Mediengeschichte und kritische Publizistik an der Leuphana in Lüneburg verwaltet hat. Er verkauft sein nahrhaftes, gleichwohl schlankmachendes Produkt zum Preis eines original Wiener Kalbschnitzels mit lauwarmem Kartoffelsalat und wilden Preiselbeeren:

    Die Sachbuch-Bestenliste für Juni

    Im Schlusssprung von null auf hundert: Eine neue Thomas-Mann-Biografie.

    Viele Thomas-Mann-Biografien sind geschrieben worden; einen Quellenreichtum wie diesen gab es aber bisher kaum: Ob unbekannte Tagebuchpassagen, Briefe an den besten Jugendfreund oder Susan Sontags nie gedruckter Essay »Bei Thomas Mann« – der Literaturhistoriker Tilmann Lahme kommt dem großen Magier so nahe wie kaum jemand vor ihm.

    100 Punkte

    1. (-) Tilmann Lahme: Thomas Mann. Ein Leben

    Tilmann Lahme Thomas Mann Ein Leben dtv

    Verlag: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
    Erscheinungsdatum: 23. Mai 2025
    ISBN: 978-3423284455

    Preis: 592 Seiten, Abb., 28,– €

    Quelle: ZEIT ONLINE, 27. Mai 2025, 17:06 Uhr

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  2. In Niedersachsen steht ein Turm, der mehr als eine besondere Aussicht zu bieten hat. Laut einem aktuellen Ranking soll er ein extrem unterschätztes Ausflugsziel sein.

    Er ist zwar relativ unbekannt, das könnte sich aber bald ändern. In Lüneburg steht ein architektonisches und historisches Juwel, das oft im Schatten der bekannteren Sehenswürdigkeiten Norddeutschlands steht – zu Unrecht. Der Lüneburger Wasserturm hat einiges zu bieten – und nicht nur eine beeindruckende Geschichte

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    • Lieber Detlef,

      vielleicht haben Sie Herrn Jenckel falsch verstanden? Lüneburg erstickt am Over-Tourism. Die Stadt benötigt keine weitere Reklame für Leuchttürme mit Magnetwirkung!

      Warum preisen Sie nicht Ihren Heimatort? Das würde sicher Herrn Patrick Pietruck und seinen Tech-Edge-Träumereien über ein mögliches Hanseviertel-Silicon Valley ([ˌsɪlɪkn̩ ˈvæli], englisch für ‚Silizium-Tal‘) entgegenkommen.

      Denn auch aus den beiden germanischen und slawischen Gemeinden an der herrlichen Ilmenau zwischen dem „Naturschutzgebiet Lüneburger Heide“ und dem „Naturpark Wendland/Elbe“ schallen doch hochstimmend liebliche Nachrichten – etwa von dem vierzig Meter hohen 5G-Funkturm (Ecke Tiergartenstraße / Am Fuchsberg) die Welt hinaus (ohne deren reales Wahr- bzw. Dasein eine schwungvolle Zukunft von Unternehmen wie der web-netz GmbH und der Werum Software & Systems AG gar nicht denkbar wären):

      Telekom treibt Mobilfunkausbau in Deutsch Evern voran

      Die Mobilfunk-Versorgung in Deutsch Evern ist jetzt noch besser.
      […]
      „Der Bedarf an Bandbreite nimmt ständig zu –rund 30 Prozent pro Jahr. Deshalb machen wir beim Mobilfunkausbau weiter Tempo“, sagt Stefanie Halle, Unternehmenssprecherin Deutsche Telekom.

      Die Telekom betreibt im Landkreis Lüneburg jetzt 73 Standorte. Die Haushaltsabdeckung liegt bei nahezu 100 Prozent. Bis 2026 sollen weitere 23 Standorte hinzukommen. Zusätzlich sind an 24 Funkmasten Erweiterungen mit LTE oder 5G geplant.

      Hierbei ist die Telekom auf die Zusammenarbeit mit den Kommunen oder Eigentümer*innen angewiesen, um notwendige Flächen für neue Standorte anmieten zu können. Wer eine Fläche für einen Dach- oder Mast-Standort vermieten möchte, kann sich an die Deutsche Funkturm wenden: http://www.dfmg.de/standortangebot.

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  3. Ratskeller unter den Arkaden des Rathaus erstrahlt wieder mit goldglänzenden Schriftzug!

    Meistens stirbt die Gastronomie im Stillen, beim Ratskeller bekam es jeder mit.

    Merkwürdig, dass sich selbst hartgesottene Wirtschaftsanalysten im Zeichen der Krise ins Sagenreich flüchten: Als Symbol für den Retter eines maroden Unternehmens hat die Ökonomie den Begriff des „Weißen Ritter“ erfunden, der durch gute Taten die im Frondienst beschäftigte Bevölkerung aus der finsteren Not führt und dabei die eigene Rüstung stets dreckfrei hält. Er ist der Gegenspieler des Schwarzen Ritters, der bekanntermaßen dem Heer der Heuschrecken voranreitet.

    “Die große Armut in der Stadt kommt von der großen Powerteh her!“

    Zum Hansetag 2012 sollte das, was zu einem Rathaus gehört, nämlich ein Ratskeller, wieder in Betrieb gehen. Wenn da nicht die Schadstoffe einen Strich durch die Zeitrechnung gemacht hätten. Alles zu teuer.

    Im Falle des angeschlagenen Stadtsäckels wird seit Monaten über die Ankunft eines Weißen Ritters spekuliert, der zugleich Heilsbringer und Friedensstifter wäre. Mit einem Schwertstreich soll er den gordischen Knoten lösen und das dazu nötige Kapital gleich mitbringen.

    Dornröschen erwacht nach des Prinzen Kuss!

    Wobei mittlerweile nicht nur über einen solchen Recken geredet wird, sondern über zwei. Konkret spricht man über zwei Gestalten, die fast so scheu sind wie das sprichwörtliche Einhorn.

    Ein Dichten ist auch das Weingenießen, nur dass die Verse nach innen fließen.

    Dieses Bekenntnis zu kaufmännischem Sachverstand dürfte auch für die Stadt von Belang sein, „An einem guten Investor sind wir natürlich interessiert“, erklärten LokalpolitikerInnen auf Nachfrage.

    Endlich wird es im Lüneburger Ratskeller wieder heißen:

    „Heimat ist, wo man sich nicht erklären muss.“

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  4. Avatar von Auf Wunsch eines einzelnen Herrn/ Klaus Bruns Auf Wunsch eines einzelnen Herrn/ Klaus Bruns sagt:

    Welch ein Glück, das so viele Firmen in Lüneburg dicht gemacht haben. Endlich gibt es Ruhe an den Grabbeltischen und für die Schnäppchenjäger bleibt noch Geld für die überteuerte Gastronomie über. Es kommen keine Kauf-Leute, sondern stattdessen Seh-Leute mit Hunger. Die Atmosphäre ist doch so viel gemütlicher und das Jammern über die Preise wird mit jedem Schluck Lüneburger Bier leiser. Und wer seinen Grabbeltisch vermisst, kann ihn im Internett ganz leicht finden. Die Händler in Lüneburg können entspannt weiter träumen und müssen sich den neuen Gegebenheiten nicht anpassen, sie haben ja schon geschlossen. Dem bösen Kunde sei dank. Früher sagte man, dass der Gruß des Kaufmanns die Klage oder das Jammern war. Stimmt! https://leitenundleben.de/der-bekannte-gruss-des-kaufmanns/

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    • »Grabbeltisch« im Internett, Klaus Bruns?

      Und der Lieferkontakt? Laut einer Erhebung des Digitalverbands Bitkom kennt rund ein Drittel der Handybesitzer, von denen es auch in Lüneburg welche geben soll, die eigene Nummer nicht auswendig. Die Antworten reichten von »Irgendwas zwischen 0 und 9« über »Da klingelt bei mir gar nichts« bis zu »Da müssen Sie sich an den netten Polizeibeamten wenden, der mich eben wegen des Unfalls meines Enkelsohns kontaktiert hat und gleich persönlich bei mir in der Agnes-Miegel-Straße 9 in Reppenstedt vorbeikommt, um die 10.000 Euro, die ich glücklicherweise immer als Notgroschen unter der Leibwäsche in meiner Nachttischschublade aufbewahre, für die Kaution abzuholen.« Insbesondere Jüngere zwischen 16 und 29 Jahren haben offenbar Schwierigkeiten, sich an ihre Telefonnummer zu erinnern. Ein frustrierter Bitkom-Mitarbeiter verrät: »Wenn ich in Cafés oder Clubs die Mädels darauf anspreche, kommt als Reaktion immer nur ein Kopfschütteln – oder der Freund. Der weiß die Nummer dann aber leider ebenfalls nicht, aua!«

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  5. Der Trend geht mittelfristig womöglich zur Auf-die-Hand-Mahlzeit oder zum Picknickkorb auf den Bänken in den „Grünen Oasen“ der Innenstadt.

    Und warum denn wohl nicht?

    Wer wird so dumm sein und am Stint, Am Sande, An den Reeperbahnen oder in der Schröderstraße essen gehen? Ein Übermaß an Fett, an Zucker und an missgelaunten Blicken ist alles, was man dort für gut 50 Euro pro Person bekommt. Wenn unsere Familie von Deutsch Evern aus über die Rote Schleuse zu Fuß einen Pfingstausflug nach Lüneburg macht, hat jeder eine Flasche reines Quellwasser und im Brotbeutel ein Vesperpaket mit selbstgemachter Salzbutter auf Knäckebrot, einen knackigen Apfel vom Regal im Vorratskeller und einen geschälten bissfesten Kohlrabi vom Netto aus der Tiergartenstraße dabei.

    Und aus voller Kehle trällern wir:

    To Pingsten, ach wie scheun, – wenn de Natur so greun,un all’ns na buten geiht, dat is een wohre Freid!besünners vör de Göörn, – de heurt man räsoneern:Weur Pingstn doch erst bloß- denn goht wie los!Kümmt nu Pingstobend ran, – denn geiht’n Leben an,de Mudder seept de Görn – vun achtern un vun vörn,sünds wuschen nu un kämmt, – denn kreegt se`n reinet Hemd,un denn geiht mit Gejuch – rin in de Puch!De Vadder nu ton anner’n Morg’n – deit sick mit Proviant versorg’n:Eier, Käs, Wust un Schinken, – ook verschiedenerlee to drinken.Dormit keen Minsch de Tied verslopt, – treckt he noch den Wecker op,un anner’n Morgen gegen soß, – dor schippert los de Troß.

    De Vadder geiht voran, – een witte Maibüx an,sien Jung kummt in de Mitt, – natürlich ook in Witt,dorbi hebbts op den Kopp – een fien’n Strohhoot op,all’ns sauber un mit Schick, – grood wie gelickt.Un nu kummt achterher – mit’t allerlüttste Göör,in groot’n Kinnerwog’n – de Mudder angeschob’n.De Dochter mookt den Sluß, – stolt, voller Hochgenuß,in Arm mit ehren Freier, – een Piependreiher.

    Und wenn unser Onkel Hans aus Lüttich als Vertreter für belgische Schokolade in der Stadt unterwegs ist, nimmt er aus Kosten- und Gesundheitsgründen nur vorher von der Großmutter für ihn eingetuppertes Essen auf Rädern zu sich:

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  6. Ja, ja, das süße Leben in dem künstlichen Paradies eines sich selbst schön geredeten Freilichtmuseums! Was ist mit den 79.000 Einwohnern? Wo finden die einmal Ruhe vor den Fotoapparatbehängten, zu Hundertausenden in Higtech-Funktionswäsche aus Mikroplastikfasern gehüllten Wanderpedelecisten, die abgestiegen überall mit ihren Nordic-Teleskopstöcken von Tchibo herumstochern und lärmen? Leben die nicht im Grunde auch in einer ihnen online eingeredeten Irrealität?

    Ich habe den Versuch gemacht, dem für eine Woche zu entfliehen. Mein Millennial-Leben startete vorvergangenen Donnerstagabend, gegen 17 Uhr. Ich hatte schon länger überlegt, mal wieder so zu leben wie früher, in meiner Jugend. Ohne überall- und jederzeit-Erreichbarkeit, ohne Internet, ohne 157 Fernsehprogramme und ohne Rote Rosen-Kitsch. Und als dann noch die Initiative „Save Social“ appelliert hatte, am Sonnabend, den 3. Mai, sämtliche sozialen Netzwerke zu blockieren, fühlte ich mich wie berufen.

    Ich deinstallierte meine Spiele bei Steam, nur die Retrospiele aus den Neunzigern und 2000er-Jahren durften auf der Festplatte bleiben, und begann mein Leben von 2002 bis 2005 mit zwei letzten Nachrichten. An einen guten Freund: „Morgen, Punkt sieben in unserer Pizzeria. Habe kein Handy!“ Das wollte ich immer schon mal machen. Und an meine Freundin, dass, wenn sie beabsichtige, mich am Wochenende zu sehen, ich ein Zeitfenster hätte von fünf bis sechs Uhr, da sei ich zu Hause. Ansonsten aber „ohne Handy“ und garantiert umtriebig. Das Echo war geteilt und changierte zwischen Verständnis und Ratlosigkeit. Nur der Punkt, dass es sich ja überwiegend um US-amerikanische Netzwerke handele, wurde mit einem deutlichen Nicken quittiert.

    Dann stellte ich auf Offline-Modus und schob mein Telefon in die Tasche. Da auch sämtliche Streamer und Mediatheken ausbleiben mussten, führte dies schnell zu einer vorwurfsvollen Stille im Haus, als sich die Sonne verabschiedete und wie für immer gegenüber hinter den Hausdächern verschwand.

    Da mich bereits jetzt eine zum großen Teil noch antizipierte Langeweile ergriff, entschied ich, ein Buch zu lesen. Ich hatte ja reichlich ungelesene Dekostücke im Regal. Damit würde ich locker ein Jahr hinkommen. Mein Gehirn wehrte sich, mit den Augen auf der Seite zu bleiben und wollte stattdessen lieber Katzenvideos schauen, laut Musik hören und sich im Kreis drehen. Zur Sicherheit zog ich meinen Router raus. Bis zum Treffen um sieben Uhr war noch angenehm viel Zeit.

    War das überhaupt heute? Ich wollte auf den Kalender blicken und sah einen kleinen Bildschirm schwarz und verlockend glänzend auf dem Tisch liegen. Es war morgen, da war ich mir sicher. Was hatte ich noch geschrieben?

    Ich überlegte, zum Einrichtungshaus zu gehen, aber wusste nicht mehr, ob es bis 18 oder bis 19 Uhr aufhatte. Und der Weg füreinen unter Umständen vergeblichen Versuch führte weit durch die Stadt.

    Ersatzhandelnd kramte ich meinen Altkleiderbestand durch, räumte gründlich auf und fand meinen alten Carhartt-Pullover aus den 2000er-Jahren in Größe XXXL! Dies interpretierte ich als Zeichen. Da ich nicht mehr über Platten und DVDs verfügte, über CDs schon, aber kein Abspielgerät, musste ich davon Abstand nehmen, laut Musik zu hören. Auf dem Tisch glänzte der Screen schwarz wie ein verlockender Obsidianbrocken.

    Eine Weile stand ich vor der Wanduhr und betrachtete die Zeiger mit einer merkwürdig detail­scharfen Aufmerksamkeit, die ich lange nicht verspürt hatte. Tick tack, tick tack, tick tack… Mein Hirn suchte eine neue Aufgabe für seine überschüssigen Kapazitäten und konzentrierte seinen gesamten Fokus daher auf die mechanisch voranzuckenden Metallpfeile. Ich nahm mir vor, einen wirklich langen Spaziergang zu machen und bei dieser Gelegenheit zu schauen, ob ich heute oder morgen verabredet war, indem ich Punkt sieben an der Pizzeria vorbeischlendern würde.

    Spoiler: Es war morgen.

    Der nächste Morgen war von Klarheit bestimmt. Euphorie lag in der Luft, wie wenn man allen verkündet, ab jetzt ins Fitnessstudio zu gehen, und sich das allein schon wie getane Arbeit anfühlt. Ich griff im Halbschlaf auf meinen Nachttisch, wo mein Telefon lag, wich aber sogleich zurück, als hätte ich in eine haarige Spinne gefasst.

    Der Vormittag war überwiegend scheußlich. Egal was ich tat und dachte – immer vagabundierte mein Blick suchend herum und die Dopaminsucht im Belohnungssystem zwinkerte kokett. Es war zweifellos Freitag, aber die Minuten drohten, sich ins Unendliche zu dehnen. Wenn die Zeit so lang war, dachte ich, könnte ich sie ja auch nutzen. Ich säuberte die gesamte Wohnung, abgesehen vom Keller und von der Abstellkammer. Danach frühstückte ich ausführlich. Ich konnte ohne Computer nicht einmal arbeiten. Folglich hatte ich frei.

    Irgendwann hatte ich gelesen, das Default-Mode-Netzwerk im Gehirn werde aktiver, wenn die Reize ausbleiben, die einen beim Scrollen bestürmen. Der Dopaminspiegel sinke, ähnlich wie beim Zucker- oder Nikotinverzicht, und die untätige Tagträumerei fördere ausgeruhtere Gedanken zutage. Ich hätte früher darauf kommen können, dass das wirklich funktioniert. Auch strapazierten passive Inhalte, wenn man stumpfsinnig stierend das Internet leerscrollt, das Gehirn wesentlich mehr als in sich zusammenhängende Inhalte, die man konzentriert aufnimmt: Beispielsweise einen Film ohne Unterbrechung von Anfang bis Ende. Bei Social Media und Youtube ist das Hirn dagegen wie auf Crack und rennt tagelang verlottert im Park herum, bereit alles zu tun, um ein letztes bisschen Hartgeld zu ergattern.

    Am Freitag war das Smartphone größtenteils vergessen. Innerlich ausgeglichen, nicht mehr gehetzt, gesammelt und glücklicher begann ich, diesen Text mit dem Füllfederhalter aufzuschreiben. Ich räumte weiter exzessiv auf und begutachtete stundenlang Schränke und Geräte in einer Einrichtungsboutique – ohne Plan, aber mit viel Muße. Ohne etwas zu kaufen. Dafür fand ich sehr viele Dinge, die ich bestimmt eines Tages kaufen würde. Bisher hatte ich mir nie Zeit dafür genommen, und das ärgerte mich jetzt. Denn dieses Mäandern durch Ladenzeilenlabyrinthe war eine lehrreiche, wunderbar sinnerfüllte Beschäftigung.

    Nach dem Mittag machte ich einen sehr ausgedehnten Spaziergang über den Treidelweg vom Polizeiparkplatz beim Behördenzentrum bis zum Grenzstein hinterm Eichhof, wo der Landwehrkanal in die Ilmenau mündet, und mir fielen wahnsinnig viele Details an den diversen dort überall wuchernden Brennesseln auf. Um etwa sechs Uhr kehrte ich durch die Innenstadt zurück – mein zweiter Tag ohne Medien und Handy –, und bemerkte, wie sich die letzte Unruhe verabschiedete und einer großen Gleichmütigkeit wich. Ich fühlte mich wesentlich entspannter und auch stimmungsmäßig aufgehellt. Ich war weniger erschöpft vom Tag als sonst, außerdem konnte ich mich nicht verabreden, nicht telefonieren. Jeder, den ich in der Straße traf, war eine willkommene Abwechslung. Ich nahm mir Zeit für den Small Talk, denn wenn man froh ist, überhaupt jemanden zu treffen, freut man sich selbst über blödsinnigstes Gerede.

    Ständig blieb ich stehen und schaute mir Kleinigkeiten an. Eine Inschrift, einen Lichtreflex, verwitternde Kirchenfenster. Nicht weil es mich wirklich interessierte, sondern einfach, weil es ungewollt meine Aufmerksamkeit band. Als würde mein Gehirn nach einer Beschäftigung suchen. Natürlich dachte ich auch ständig darüber nach, was meine Freunde gerade machten und welche Nachrichten aus Neuseeland oder Tansania ich gerade verpassen würde. FOMO, die „fear of missing out“, die gerade jüngere Leute beklagen. Doch nichts reichte herran an das kurze Glück, als ich nach stundenlanger Wanderung und vielen, ungemein tiefschürfenden Gedanken um sieben Uhr feststellte, dass besagter Freund wirklich lächelnd am Eingang der Pizzeria stand. Ich war richtig schlimm glücklich und freute mich auf den Abend. Außerdem hatte ich, obwohl gar nicht viel passiert war, doch verrückt viel zu erzählen.

    „Das klingt nach einem super Experiment“, sagte Felix, während er seine Pizza genoss. „Ich würde auch lieber im Wald leben. Manchmal denke ich darüber nach, alle Apps zu löschen. Vielleicht bringt das den Leuten wieder bei, pünktlicher zu sein oder nicht mehr spontan abzusagen.“ Er überlegte und schaute auf sein Pizzastück: „Man kann dich ja nicht erreichen und sich entschuldigen.“

    Wir sinnierten eine Weile darüber, warum Freunde sogar am Tisch das Handy durchwischen. Wollten sie sich immer alle Optionen offenhalten? Als wäre heute Abend in jeder Sekunde doch noch etwas Besseres möglich als das, was sie hier gerade machten? Mir hatte eine Frau auf der Straße erklärt, der ich von meinem Experiment erzählt hatte, sie habe da eine Freundin, die immer mehrere Verabredungen gleichzeitig treffen würde. Ständig schaue sie dann, wenn sie irgendwo sei, auf ihr Handy. Und irgendwann rutsche sie regelrecht auf dem Stuhl hin und her, weil sie beichten müsse, diesen Plan-B, C und D noch in der Pipeline zu haben und keinen davon jetzt mehr absagen zu können.

    „Wie zutiefst unhöflich“, empörte sich die Frau.

    Meine Freundin stand dann jedenfalls eine Viertelstunde zu spät auf der Matte, aber das war völlig okay. Es war Sonnabend, ein Äon von sieben Tagen Digital-Detox war vergangen. Mein Handy war komplett vergessen, die Langeweile der Normalzustand, aber ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, darüber nachzudenken, was ich gerade verpasste. Ohne die morgendlichen Nachrichten über Trump, den Papst und J. D. Vance zu überleben, stimmte mich froh.

    Am Sonntagvormittag frühstückten wir ausgiebig in einem kleinen Lokal, und als es Nachmittag wurde, nahm ich das Handy vom Tisch. Ich sah ein sehr lustiges Video und dann noch eines und noch eines. Auch in den folgenden Tagen benutzte ich das Handy weniger.

    Am meisten vermisste ich die Messenger und das Angerufenwerden. Denn mit dem Verabreden, das bleibt weiterhin blöd. Auch Wege finden oder Öffnungszeiten nachschauen, das ist heute alles ein Segen. Aber diese Ruhe im Kopf möchte ich schon behalten, und vielleicht mache ich es wie mein Stiefvater. Der geht einmal im Jahr eine Woche fasten.

    Montagmorgen war dann jedenfalls wieder Mai 2025 und begann im Bett, beim ersten Kaffee, mit einem Video, das zeigte, wie ein Mann eine volle Pfanne mit Rührei aus dem Handgelenk wenden will, und dann bricht mitten in der Bewegung der Stiel ab. Heute erfuhr ich: Merz will die Bundeswehr zur „stärksten Armee Europas“ machen, „Wie konnte es dazu kommen, dass ‚Trash-Ikone Melanie Müller‘ in Leipzig vor einem rechtsextremen Motorradclub auftritt, dort ihren rechten Arm hebt? Und was macht Melanie Müller heute?“ Diesen Fragen geht ein „neuer, brandheißer“ LVZ-, SZ- und RND-Podcast nach, Trump lässt sich einen 400-Millionen-Dollar-Jet schenken, nennt den Mörder von Jamal Khashoggi auf einem Staatsbankett in Riad „seinen Freund“ und will den Gaza-Streifen „einnehmen“ und in eine „Freiheitszone“ umwandeln. Qatar Airways bestellt 160 Boeing-Flugzeuge und Trumps Sohn Eric verkündet stolz den finanziell geförderten Bau eines neuen Trump-Towers in Dubai – direkt an der Sheikh Zaid Road, der Hauptstraße Dubais, gelegen. Auch Syrien will einen Mineralien-Deal „mit den USA“ – und lockt mit Subventionen für den Bau eines Trump-Towers in Damaskus. Trump strebt weiter ein rasches Friedensabkommen im Ukraine-Krieg mit Putin an. Der will supergünstige Kredite für den Bau eines Trump-Towers in Moskau wohlwollend prüfen.

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