Die alte Schule muss abdanken

Wohin geht die Reise an der Schule?

Wohin geht die Reise an der Schule?

Weht durch unsere Schulen der Muff von zweihundert Jahren? Ja, sagen Jana Bobrowska, Philine Ahlf, Lena Bickel und Antonia Kiesecker provokativ. Die Schule muss sich schnell und dringend erneuern. Das schreiben die Schülerinnen des Bernhard-Riemann-Gymnasiums in Scharnebeck in einem offenen Brief an Medien und Politik. Die vier Schülerinnen der 12. Klasse, die als ein Ich schreiben, wollen mit ihrem Brief eine Diskussion entfachen.

Wie wichtig ist die Schule?

Ich denke im ersten Moment: „Ach, Schule… kein Drama, es gibt Wichtigeres: Familie zum Beispiel, meine Freunde, Glücklich zu sein, …“.

Aber ich gehe fünf Tage die Woche in die Schule, mache Hausaufgaben, bereite mich auf Klausuren vor. Alles völlig normal, denn ich mache Abitur. Freiwillig. Genauso gut könnte ich eine Ausbildung machen. Auch wenn sich das nicht alle von uns Abiturient*innen eingestehen: Abitur zu machen ist keine Pflicht, sondern unsere freie Entscheidung. Anscheinend haben wir also alle ein gewisses Bedürfnis nach Bildung.

Kein Wunder, denn Bildung geht jeden etwas an. Bildung eröffnet Perspektiven. Bildung verändert Menschen. Bildung prägt Kulturen. Bildung ist nicht nur einfach nur wichtig, sondern essenziell. Das merkt man in der Schule für gewöhnlich nur nicht. Ehrlich gesagt – ich habe jetzt schon Schiss vor meinem Abitur. Druck, Stress, Unsicherheit, Perfektionismus. Das kennen viele Schüler*innen. Nacken-, Kopf- und Rückenschmerzen, Augenringe. Ein gut gemeintes „Kopf hoch“ nach einer Drei-Punkte-Klausur. Vergebliche Bemühungen.

Ich bin Schülerin. 12.-Klässlerin an einem norddeutschen Gymnasium. Die Schule ist mein Vollzeitjob.

Sehr geehrte Damen und Herren,
gerne würde ich mich Ihnen genauer vorstellen, nur weiß ich nicht, wer ich eigentlich wirklich bin. Ich würde mich auch gar nicht beschweren, wäre ich die einzige Person mit diesen Problemen. Ich muss aber leider im Folgenden von „uns“ sprechen – tausenden Schüler*innen, welchen es genauso geht wie mir. Wir haben schon vor langer Zeit den Spaß am Lernen verloren. Wir haben schon vor langer Zeit den Glauben an uns selbst verloren. Wir haben uns schon vor langer Zeit in einem System verloren, dass seine Ideale im Deutschen Kaiserreich findet und seitdem nur unzureichend modernisiert wurde. Im deutschen Schulsystem, das stolze 208 Jahre alt ist. Das verstaubte zweihundert-acht Jahre alt ist.

Dieses Schulsystem schränkt unsere Individualität ein. Dieses System lässt uns keinen Raum, uns frei zu entfalten, uns selbst und unsere Stärken zu finden. Vor uns Schüler*innen stehen Lehrer*innen, welche sich an einem einzigen Tag innerhalb kürzester Zeit auf Kinder, Pubertierende, Jugendliche und junge Erwachsene einstellen müssen. Vor uns stehen Lehrer*innen, welche innerhalb kürzester Zeit 30 oder mehr absolut unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Talenten dieselben Dinge beibringen sollen. So macht dieses marode System uns im Endeffekt zu einer einheitlichen Masse. Wir können wiedergeben, was Andere erfunden haben. Wir können uns in kürzester Zeit sehr effektiv viele Informationen einprägen und diese dann genauso effektiv wieder vergessen. Wir können uns akribisch an übertriebene Vorgaben, wahllose Formalia halten. Doch wir scheitern daran, kreativ und innovativ die gedanklichen Regeln zu brechen – weil wir es schlicht nie geübt haben.

Das gegenwärtige Schulsystem war sicher eine großartige Errungenschaft, eine stolze Bildungskönigin. Doch jetzt ist es an der Zeit abzudanken. Was wir jetzt brauchen, ist kein Ausbau der Gesamtschulen, ohne politisches Durchhaltevermögen und ohne methodisch-überzeugende Umsetzung. Wir brauchen keine Bildungsreformen, die einmalig Veränderungen bringen und dann wieder versanden. Wir brauchen keine ungerechte Privatisierung der Schule, auch wenn Alternativschulen-Konzepte oft innovativ und inspirierend sind. Wir brauchen keine PISA-Debatten mehr, weil auch PISA nur nach Kriterien der Vergleichbarkeit und Messbarkeit klassifiziert. Ebenso wenig brauchen wir einen nationalen Bildungsrat, dessen einziges konkretes Ziel es bis jetzt ist, „Eltern, die häufig umziehen müssen, aufatmen [zu lassen]“.

Meine Damen und Herren aus Politik, Medien und Wirtschaft, Liebe Entscheidungstragende,
Was wir jetzt brauchen sind eine nationale Bildungsdiskussion und massive Bildungsinvestitionen.

Bildung muss langfristig und dauerhaft zum Thema werden – in der Politik und in den Medien. Zusätzlich braucht es deutlich höhere Ausgaben für Bildung, damit Ideen auch umgesetzt werden können. Insbesondere wir Schüler*innen wollen die Schule der Zukunft mitgestalten. Wir wollen selbst entscheiden, was uns wichtig ist – wollen mitbestimmen, was Schule sein soll. Deshalb stellen wir schon jetzt konkrete Forderungen:

Wir fordern das Ende des Bildungsföderalismus. Wir fordern klare Zuständigkeiten auf Bundesebene für Bildung durch alle Lebensabschnitte als Basis für reales lebenslanges Lernen. Wir fordern eine Ausweitung der kommunalen Selbstbestimmungsrechte für mehr Freiheit in der Schulgestaltung und einen produktiven Wettbewerb zwischen Schulen unter der Bedingung von einheitlichen Standards und höchster Transparenz auf allen Entscheidungsebenen. Wir fordern das Ende der Verbeamtung für Lehrer*innen als Maßnahme der Qualitätssicherung. Wir fordern Lehrermangel durch Lehrpersonen mit spezifischer, konkreter Berufs- oder Forschungserfahrung zu kompensieren. Wir fordern eine radikale Reduktion der Kerncurricula für mehr Raum für individuelle Forschungsarbeiten. Wir fordern projektorientierten und interessengestützten, jahrgangübergreifenden Unterricht als einen festes Bestandteil jedes Stundenplans. Wir fordern eine effiziente, professionelle Einbindung von digitalen Lernprogrammen und Medien in den Unterricht. Wir fordern ein grundlegend anderes Bewertungssystem hin zu einer umfassenden, individuellen, wertschätzenden Feedback-Kultur.

Schließlich fordern wir Sie auf: Machen Sie Wahlkampf mit Bildungsthemen. Denn Bildung betrifft jeden. Und wir fordern Sie auf, Bildungskongresse zu veranstalten, die einen Dialog zwischen theoretischen und praktischen Expert*innen, Politiker*innen und engagierten Bürger*innen ermöglichen, um gemeinsam neue Ansätze für unser Schulsystem zu entwickeln. Denn Bildung spiegelt die Gesellschaft, Bildung ist unsere Kultur. Bildung geht alle etwas an. Bildung ist nicht nur einfach nur wichtig, sondern essenziell.
Wie wichtig ist die Schule?

Diese Frage zu beantworten kann eben nicht allein in meiner Hand liegen. Letzten Endes ist es eine Frage an die Politik, an die Wirtschaft, an die Medien. Wie wichtig ist die Schule? Es ist eine Frage an jede und jeden Bürger*in Deutschlands. Dabei fordere ich keine überstürzten Veränderungen, sondern eine nationale Bildungsdiskussion, eine dauerhafte Evaluation des Schulsystems und nachhaltige, massive Bildungsinvestitionen. Denn das gegenwärtige Problem ist nicht, dass das deutsche Schulsystem veraltet und ineffizient ist – wirklich erschreckend ist, dass Visionen, Ziele und Vorhaben für ein grundlegende Modernisierung des Schulsystems weitgehend ausbleiben. Doch ohne konkrete Visionen bleibt die Bildungsdebatte genauso innovativ wie wir Schüler*innen es überwiegend sind. Nämlich null.

Ich bin Schülerin. Angehende Abiturientin eines norddeutschen Gymnasiums. Ich träume davon, dass in naher Zukunft niemand mehr sagt, Schule sei ein Vollzeitjob. Wir alle sollten Vollzeit leben.

Jana Bobrowska
Philine Ahlf
Lena Bickel
Antonia Kiesecker

Über jj

Journalist, Dipl.-Kaufmann, Moderator, Lünebug- und Elbtalaue-Liebhaber
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54 Antworten zu Die alte Schule muss abdanken

  1. Thomas Müller schreibt:

    Sehr geehrter Herr Digitalminister Althusmann,

    unsere Kinder werden von Informationskapitalisten, denen Sie den heimischen Bildungsmarkt mit erschlossen haben, im Unterricht missbraucht. Was tun Sie, um das zu ändern?

    Als Klassenlehrer richte ich meinen Klassenraum gerne so ein, wie ich es möchte. An die Wand hänge ich einen großen Kalender, einen bunten Stundenplan, eine Tabelle mit den Klassendiensten. Und natürlich noch Poster meiner Lieblingsunternehmen: Facebook, Amazon, YouTube, Whatsapp, Booking.com.

    Am ersten Schultag erzähle ich den Schülern von meinem Urlaub. Ich sage ihnen, dass ich dank Airbnb das „Chillen ganz neu entdeckt“ habe, so günstig und mit Strandblick habe ich gewohnt. Dabei war ich eigentlich pleite, aber die Commerzbank hat mir einen günstigen Kredit gegeben. „Commerzbank, die Bank an deiner Seite“, füge ich hinzu und zeige mit dem Daumen nach oben.

    Werbung im Klassenraum, das finden Sie nicht richtig?

    Stimmt, in Hamburg ist Produktwerbung auf Werbeflächen in der Schule verboten. Dennoch hat sich die Werbung in den letzten Jahren heimlich ins Klassenzimmer geschlichen. Die große neue Werbefläche heißt Smartboard und hat ein paar tausend Euro gekostet.

    Ich will auf YouTube ein kurzes Interview von Donald Trump zum Klimawandel zeigen und mache den Browser auf. Während dieser startet, erkläre ich den Kindern die Aufgabe. Doch die starren an mir vorbei und sind völlig abgelenkt. Plötzlich blökt einer: „Jetzt gibt es bald drei Toiletten, Digga!“ Gelächter. Die ganze Aufmerksamkeit gilt einer Nachricht über die Genderdebatte in den USA, die über den Schirm tickert.

    Darüber prangen die Embleme der größten amerikanischen Internetfirmen und unten eine eineinhalb Meter breite Anzeige der Commerzbank. Dabei haben wir die Startseite schon deaktiviert, doch der Browser wirbt neuerdings auch ganz von selbst.

    Gerade erklärt nun Donald Trump dem Journalisten auf YouTube, dass er ganz eigene Wissenschaftler und Studien zum Klimawandel habe, als der Beitrag unterbricht. „Wie war dein Urlaub so?“, fragt Airbnb. Die Aufmerksamkeit ist komplett weg. Ich habe das Gefühl, die Kinder haben nichts verstanden.

    „Finn, google mal Klimawandel!“, ordne ich an. Wieder ganz oben: Eine Anzeige, immerhin die Guten dieses Mal – der WWF ruft zur Spende auf. Ob ich damit meinem Auftrag politischer Neutralität gerecht werde? Im Laufe der Stunde schauen wir uns noch ein paar Berichte und Statistiken aus verschiedenen Zeitungen an und immer wieder taucht dieses Werbebanner für Adidas-Turnschuhe auf.

    Genau solche, wie ich sie mir in der Pause über meinen privaten Amazon- Account bestellt habe. Ich merke, wie die Schüler darüber tuscheln. Gut, dass ich das Medikament gegen Darm-Würmer direkt in der Apotheke gekauft habe.

    So oder so ähnlich läuft Unterricht heute in vielen Tausend Schulen ab und die meisten Kollegen gehen mit dem Thema Werbung so arglos um wie ich: Wer die Vorteile von YouTube und Co. genießen möchte, muss anscheinend mit Werbung leben. Ad-Blocker, noch strengere Mailfilter, ein werbefreier Bildungsbrowser, der nur gute, spaßfreie Seiten anzeigt? Wenn wir ganz konsequent wären, bliebe das Internet für uns wohl ziemlich leer.

    Trotzdem klafft da neuerdings diese Lücke zwischen Gesetz und Realität, in die nur so lange keiner fällt, bis uns ein findiger Jurist Böses will. Das Smartboard eröffnet uns viele Möglichkeiten; gleichzeitig ist Schule damit immer mehr zur Werbeveranstaltung geworden.

    Ich wundere mich nur, warum es bisher noch keine zielgruppengerechte Werbung gibt. Für Internetbetreiber ist es heute ein Leichtes, herauszufinden, was für ein Gerät am Ende der Leitung hängt.

    Aber vielleicht liest ja ein aufmerksamer Marketing-Mensch mit. Wenn wir in den nächsten Wochen Werbung für Clearasil, Fortnite und Bibis Beauty-Palace bekommen, werde ich es wissen.

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  2. Mareike Hansen schreibt:

    Hallo Herr Althusmann,

    in Deutschland werden die Schulen und Hochschulen gerade auf die nächste Stufe der Digitalisierung eingeschworen. Weil „der Staat“ (Land und Bund) darauf mangels Expertise, mäßiger Gehälter und eines babylonischen Kompetenzwirrwarrs im Digitalsektor nicht vorbereitet ist, steht die Tür weit offen für Unternehmen, die sich als Tutoren, Mentoren, Teacher anbieten, die Mitarbeiter schulen und Zertifikate verteilen. Und was liegt anschließend näher, als Hard- und Software anzuschaffen, für die Mitarbeiter schon geschult worden sind? In den Vereinigten Staaten, wo Google großzügig Laptops für Klassenzimmer verteilte und lobbyistischen Einfluss auf Lehrer nahm, hat sich dagegen schon vor Jahren offener Widerstand der Lehrerschaft geregt.

    Haben Sie dazu eine Meinung?

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  3. Andreas Janowitz schreibt:

    Auch wenn die Kinder nur auf`s trollen aus waren, sich offensichtlich nicht trauen hier wenigstens einmal Stellung zu beziehen, wäre es doch empfehlenswert diesem Herren einmal zu zuhören:

    Zumal er durchaus einleuchtendes über Bildung zu erzählen hat…

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    • Marcel schreibt:

      Wow, Herr Jannowitz, ich wußte gar nicht, daß Sie niederländisch sprechen und sich für die Spleens geadelter Investmentbanker interessieren. Die Sache mit der Coco-de-Mer, der doppelten Kokosnuss war mir gar nicht bekannt, die in Tim Smits „Eden“ wächst, dem „lebendigen Pflanzentheater“ in den größten Gewächshäusern der Welt, welche in der Südwestecke von England, in Bodelva in der Grafschaft Cornwall stehen. Ist es wahr, daß keine Pflanze der Welt einen größeren Samen hat und dieser aussieht wie ein riesiger Hintern? Jaaa! Schauen Sie hier: https://www.reisen-seychellen.net/fileadmin/_processed_/4/9/csm_seychellen_flora_fauna_coco_63b0025b9f.jpg und hier: http://c252289.r89.cf3.rackcdn.com/36956.jpg

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      • Andreas Janowitz schreibt:

        Nun liebe Kinder gebt fein Acht! Ich hab euch etwas mitgebracht:
        Heute den Marci mit seinem seinem doch recht unglenk vorgetragenem „ad hominem“. Für ihn ist wichtig wer etwas sagt, nicht was gesagt wird. Autoritär im Geiste, betreut im Denken hat er zuallererst die Schmähung im Sinn, findet nichts gutes am neuen und schon gar nicht am Überkommen von althergebrachtem. Möchte sich nur selbst hinstellen als grösstes Lämpchen im Lampenladen.

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      • Marcel schreibt:

        ♫♪♫ Karamba, karacho, ein Whisky! / Karamba, karacho, ein Gin! / Verflucht, Sacramento, Andreas, / und alles ist wieder hin! ♪♫

        Haben Sie nur die eine Schmähformel mit dem „betreuten Denken“ drauf, Herr Janowitz? Sie wiederholen diese jedenfalls ständig. Hier würzen Sie Ihre originelle Wendung sogar mit einer ulkigen Namensverdrehung, deren herabsetzende Praxis ja nicht nur aus den Reformationspolemiken bekannt ist! Und jeder, der sich nicht verhält, wie Sie es sich wünschen, wird als „autoritär im Geiste“ bezeichnet? Finden Sie eigentlich nie etwas Gutes am Neuen? An von Ihnen nicht erwarteten Betrachtungen? Und schon gar nicht am Überwinden von Althergebrachtem? Warum gehen Sie nicht auf die konkrete Einzelheit ein, die ich genannt habe? Was wollten Sie mit Ihrem Video genau sagen? Haben Sie selbst es sich schon angeschaut? Können Sie Ihre Absicht verständlich darlegen und das Dargelegte auch begründen? Oder möchten Sie, indem Sie immerzu irgendwelche angedatschten Bildungsfrüchte in die Manege werfen, aber nie deutlich machen weshalb Sie das zun, sich nur selbst als größtes Lämpchen in Ihrem von Janowitzen illuminierten Lampenladen hinstellen?

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      • Andreas Janowitz schreibt:

        Marci wie alt bist du eigentlich? 12? Hier unter dem Deckmantel der Anonymität die üblichen platten Sprüche raus hauen und dabei ernst genommen werden wollen?
        Ja du bist kein Bot, Gratulation.
        Hast wohlmöglich sogar eine nicht als Spam markierte e-mail verwendet, wie ausgeschlafen.
        Ich werde den Thread nicht mehr weiter zumüllen, um deine Aushilfsfehdehandschuhe aufzuheben. Werd` erwachsen Kind.

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      • Marcel schreibt:

        Heidenei, Andi,

        was hast Du gegen „Kinder“? Was ist das nur für ein seltsam unerwachsener Vorbehalt auf der Seite des gebildeten Mannes von Welt? „Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer“, meinte Montaigne, den Hans Stilett, sein bedeutendster deutscher Übersetzer, in seinem Erinnerungsbüchlein „Eulenrod“ zitiert (Biographisches Mosaik. München 2013, Antje Kunstmann Verlag, 111 Seiten, hier S. 5).

        Der Autor, 1922 im hessischen Witzenhausen als Hans Adolf Stiehl geboren, wuchs im thüringisch-vogtländischen Zeulenroda bei seinen Großeltern auf. Die Großmutter ist im Grunde seine wichtigste Bezugsperson, denn seine Mutter ist immer wieder abwesend um zu arbeiten. Sie wohnen in eher ärmlichen engen Verhältnissen, über die der Junge aber nicht lamentierend, sondern eher naiv-lakonisch berichtet:

        „Unsere Wohnung ist sehr klein, nur Stube und die Schlafkammer der Großeltern; dort passen grad zwei Betten nein, eins hinterm andern. Meine Mutter und ich schlafen in der Bodenkammer, mit Brettern abgeteilt.“ (15)

        Das genannte Montaigne-Zitat ist insofern wichtig und wegweisend, als Stilett seine Erinnerungsschnipsel vom Achtjährigen in dessen damaliger, thüringisch-vogtländisch geprägten Sprache erzählen lässt.

        Dadurch ergibt sich eine Art von poetischer Direktheit, die Dich sicher an die Dubliners von James Joyce oder vielleicht noch mehr an die Prosa von William Carlos Williams erinnern würde. Im Englischen gibt es den Ausdruck „a short glimpse“, also einen kurzen Eindruck bekommen, ein kurzes, helles Aufflackern von Situationen, Erinnerungen, Begebenheiten. Man könnte es auch Epiphanie nennen. Diese lieterarischen Stilmittel prägen diesen Text:

        „Die Großmutter läßt gern einen fahrn. Sitz ich in der Ecke und schau mir Bilderbücher an, meint sie, ich merke nichts; dann tut sie so, als hätt sie am Gaskocher zu tun, greift sich an den Hintern und zieht eine Backe weg, so daß der Furz nur leise rausfaucht. Ich laß meine lieber knalln.“ (S. 25)

        Du siehst, Andi, Kinder sind nie „bloß“ Kinder. Die können so einiges. Und manches sogar besser als pomadige Lüneburger Dünkelphilosophen.

        Du hast Dir glücklicherweise etwas Kindisches bewahrt, Andi, bist ja ein richtiges kleines Zornbinkerli, wenn Du in Fahrt kommst. Doch leider baust Du Dich bloß wieder nur wichtigtuerisch auf, so als habest Du etwas Konkretes zu bieten, die berühmte Silberbüchse Winnetous etwa, „deren Kugel niemals ihr Ziel verfehlte“ (Vgl.: Karl May: „Der Sohn des Bärenjägers“. In: ders.: Werkgruppe III in 184 Bänden, hier Band 8, S. 122), aber dann kommt außer einer wirr umherstrampelnden Schimpftirade gar nichts mehr und das komplette Bild deines Anliegens beginnt sich inklusive seiner Konturen mit galoppierender Geschwindigkeit aufzulösen.

        Das erinnert mich an Franz Kafka, der auch als Naturbursche springt und als Filmriss landet:

        „Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf . . .“

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  4. Andreas Janowitz schreibt:

    Schade hätte interessanter werden können.

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  5. Kevin Schnell schreibt:

    Liebe Jana Bobrowska, Philine Ahlf, Lena Bickel und Antonia Kiesecker,

    ihr seid „verstörend provokativ“, wenn ihr mit origineller Allusion behauptet, durch unsere Schulen wehe „der Muff von zweihundert Jahren“. Trotzdem, manch einer sieht das nicht so. Vielleicht weil sie/er diese These für lau aufgewärmten 90er Jahre Mainstream hält. Karlheinz Fahrenwaldt etwa, der ratsherrlich plakative Satirethematiker, vermutet, die Lüneburger Bildungsphilosophie sei schon mit der hansestädtischen Einreise von Holm Keller und Sascha Spoun im Jahre 2006 von Humboldt und Gauß weg und hin zur Messbarkeit der Erziehungswelt revolutioniert worden.

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    • Kevin Schnell schreibt:

      Leider fehlt hier der größte Teil.

      Ist Satire bei Blog.jj neuerdings verboten? Wie dämlich müssen öffentlich Unsinn faselnde, ihre fachliche Ahnungslosigkeit wie selbstfixierte Exhibitionisten zur Schau stellende Figuren denn sein, um bei Hans-Herbert Jenckel als schützenswerte Art zu gelten?

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      • jj schreibt:

        Lieber Herr Schnell, ich schätze Ihre Kommentare, oft brillant, messerscharf, aber manchmal…. Nun lesen noch einmal, was Sie da gerade geschrieben haben, lauter Tiefschläge, auch deswegen wird es nichts mit dem fiktiven Interview. LG jj

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  6. Klaus Bruns schreibt:

    https://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-der-schulen-nachdenken-first-1.4223646
    Wolfgang Schimpf ist Schulleiter des Max-Planck-Gymnasiums in Göttingen und Vorsitzender der niedersächsischen Direktorenvereinigung.
    Politik und Wirtschaft drängen auf die Digitalisierung der Schulen. Doch nutzt die der Bildung überhaupt? Plädoyer für eine digitalkritische Pädagogik.

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    • Jürgen Kern schreibt:

      Das ist ein sehr guter Zeitungsartikel, Herr Bruns!

      Sowohl der Markterschließungsdruck durch die Industrie und deren Mittler in die Schulen hinein (Bertelsmann Stiftung) und dort vor allem in die Herzen der alles ach so gutmeinenden Eltern (und die der tölpelhaften Bildungs- und Wirtschaftsminister) als auch der letztlich totalitäre Anspruch digitaler Erfassung wird überzeugend herausgearbeitet:

      „Sicher ist, dass wir uns mitten in einer gesellschaftlichen Umgestaltung größten Ausmaßes befinden. Zugleich haben die meisten nicht einmal im Ansatz begriffen, was auf sie zukommt. Der Slogan von FDP-Chef Christian Lindner zur letzten Bundestagswahl: ‚Digitalisierung first – Bedenken second‘ bringt das Credo unserer ökonomischen Nomenklatura auf eine prägnante Formel: Die Macht des Faktischen vereinigt unsere Gesellschaft in vorauseilendem Gehorsam und schwört sie mit geradezu mythischer Sehnsucht auf die Verheißungen der schönen neuen Welt ein.
      (…)
      Keine Verweigerung, aber auch keine unkritische Übernahme wünsche ich mir. Sondern eine Digitalisierung mit Augenmaß: Einerseits sollten wir uns ihrer teilweise großartigen Möglichkeiten bedienen. Andererseits müssen wir die Schüler so stark machen, dass sie auch Nein sagen können: Nagelprobe ihrer Autonomie. Denn es geht um viel mehr als die Frage nach optimalen Unterrichtskonzepten. Erfülltes Leben resultiert nicht aus dem digitalen Entweder-Oder, es verdankt sich der Dynamik eines Sowohl-als-Auch. Sein Paradigma ist das autonome Individuum – das Gegenbild zu dem, was die digitale Transformation uns als Errungenschaft andient. Es wäre Zeit, dass auch die Entscheider unserer Republik dies erkennen.“

      Zum Dank für Ihre Leseanregung bekommen Sie, dem sicher die unterhaltsame Groteske nicht entgangen ist, welche Boris Palmer gerade aufführt, von mir einen Link, der Ihnen ermöglicht sich vorzustellen, was der Grüne Spitzenrechtsaußen und brüllende Tübinger Ober-Sheriff nach seiner Amtsenthebung wohl Zuhause treiben wird:

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      • Klaus Bruns schreibt:

        boris hätte das angebot von der bahn annehmen sollen.der guter heiner hatte ihm ja das passende forum geboten. dort sind die kunden solchen service gewohnt. wer brüllt hat recht. er sollte von der bahnsteigkante zurücktreten, solange es nicht schlimmer wird. schmunzeln.

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  7. Andreas Janowitz schreibt:

    Bevor das hier in eine Familienpolitikeskapade abgleitet: was sagen die Schülerinen bzw. Lehrer dazu? (Ich bitte das auch zu erwähnen, wenn jemand Lehrer oder Schüler und sei es von einer anderen Schule, ist.)
    Ich kann der mutigen Absage an PISA Testmarathons oder SAT-Orgien nur beipflichten. Und auch wenn der Vokabeltest sinnvoll ist so machen stundenlange standartisierte Tests in meinen Augen wenig Sinn und töten nur jedwedes Interesse an lernen, machen es zu einem gigantischen Vokabeltest. Und ja auch ich musste solche einfach zu kontrolierenden SAT testartigen Machwerke an der Uni über mich ergehen lassen, lerngewinn gleich null.
    Bei 60 Studenten pro Prof. kein Wunder das die resignierten und solcherlei einfach zu kontrolierenden Unfug einführten. Bei den Lehrern ist es genau dasselbe? Wie sollen Klassen mit 30+ Schülern handhabbar sein? Was im angeführten „neuen Bildungsstaatsvertrag“ auch thematisiert wird.

    Ich kann allen Abiturienten nur anraten auf jeden Fall erst eine Ausbildung zu machen und die Uni hinten anzustellen, wer als Studienabbrecher in der Arbeitsamtbürokratie landet, wird wie ein Hauptschüler ohne Abschluss behandelt und muss Idiotentests verbrähmt als „psychologische Eignungstests“ über sich ergehen lassen. Das kann ich wirklich nicht empfehlen!
    Einmal in den Mühlen der Bürokratie müssen Lehrer deren Verbeamtung bevorsteht heutzutage z.B Bewerbungen schreiben um überhaupt HATZIV tauglich zu werden?!

    Die groteske Komödie kann mitunter enervierende Wendungen nehmen- Sachzwänge eben.
    Die können einem ganz schön den Tag versauen.
    Von der surrealen Konzernbürokratie will ich gar nicht erst anfangen.

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    • Klaus Bruns schreibt:

      Wie sollen Klassen mit 30+ Schülern handhabbar sein?
      wir waren 51 in der klasse. ihre frage ist leicht zu beantworten. wenn kinder zuhause besser erzogen würden, gäbe es hier keine probleme. wenn eltern die möglichen ablenkungen in unserer gesellschaft ohne einzugreifen zulassen, werden auch in der zukunft 10 in einer klasse zuviel sein. wer das fernsehen als babysitter missbraucht und handys schon kleinkindern erlaubt, muss sich doch nicht wundern.

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    • Gerhard Hansen (Kirchgellersen) schreibt:

      Andreas Janowitz,

      wenn ich bei Google „blog.jj – Die alte Schule muss abdanken“ eingebe, weil ich sehen möchte, welche Wellen der offene Brief an Medien und Politik bereits geschlagen hat, und mich in der Rubrik „News“ über die weltweit aktuellsten Meldungen zum Thema der BRG-Girls informieren möchte, bekomme ich sage und schreibe ganze „4 Ergebnisse (in 0,11 Sekunden)“. Nämlich in der Reihenfolge ihres Aufpoppens:

      1. – Uni-Professor Wuggenig fordert Rücktritt von Dr. Scharf
      Landeszeitung für die Lüneburger Heide-12.01.2018
      https://www.landeszeitung.de/blog/lokales/1386881-klage-gegen-buergermeister-dr-scharf

      2. – Lüneburgs CDU-Chef Webersinn wirft das Handtuch
      Landeszeitung für die Lüneburger Heide-24.01.2018
      https://www.landeszeitung.de/blog/lokales/1448352-lueneburgs-cdu-chef-wirft-das-handtuch

      3. – Frau Scherf muss weg. Oder?
      Landeszeitung für die Lüneburger Heide-10.09.2015
      https://www.landeszeitung.de/blog/blog-jj/261935-frau-scherf-muss-weg-oder

      4. – Wer blutet nach der Wahl in Lüneburg für die AfD?
      Landeszeitung für die Lüneburger Heide-30.12.2015
      https://www.landeszeitung.de/blog/blog-jj/291196-wer-blutet-nach-der-wahl-im-lueneburger-rat-fuer-die-afd

      Bitte, machen Sie den Test! Sind das Bildungsthemen? Wie erklären Sie sich diese Resultate?

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      • jj schreibt:

        https://jj12.files.wordpress.com/2018/11/schule.png
        Da haben wir wohl verschiedene Browser, bei mir ist das gleich oben. lg jj

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      • Gerhard Hansen (Kirchgellersen) schreibt:

        Nein, haben wir nicht!
        Sie haben bloß – ob mit Absicht oder nicht, weiß ich nicht – unterschlagen, dass ich geschrieben habe: „wenn ich bei Google ‚blog.jj – Die alte Schule muss abdanken‘ eingebe, weil ich sehen möchte, welche Wellen der offene Brief an Medien und Politik bereits geschlagen hat, und mich deshalb …

        → IN DER RUBRIK ‚NEWS‘ ←

        … über die weltweit aktuellsten Meldungen zum Thema der BRG-Girls informieren möchte, bekomme ich sage und schreibe ganze 4 Ergebnisse (in 0,11 Sekunden). Nämlich in der Reihenfolge ihres Aufpoppens“ – die von mir angegebenen. Das habe ich eben gerade noch einmal getestet. Es hat sich NICHTS verändert. Das heißt, der mit großen Worten eingeleitete Aufschlag hat bisher KEINERLEI mediale Wellen erzeugt, die über reine blog.jj-interne Aktivitäten hinausgehen.

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      • jj schreibt:

        Ich glaube Ihnen mal, also, Sie haben bestimmt recht und mein Google-Browser betrügt mich. Ich trage es mit Fassung lg jj

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      • Gerhard Hansen (Kirchgellersen) schreibt:

        Post scriptum: Wenn Sie auf Ihre „Teilen“-Buttons schauen, können Sie überdies feststellen, dass offenbar selbst die Scharnebecker Gymnasiastinnen ihren eigenen Text mit dem so passioniert behaupteten Herzensanliegen nicht einmal bei Facebook weiter verbreiten. Weder antworten sie hier im Forum ihren lokalen Kommentatorinnen und Kommentatoren, noch tun sie etwas, um ihr „essentielles Medienprojekt“ in Richtung der begehrten „nationalen Bildungsdiskussion“ zu pushen. Wenn ich Verdachtsjournalist wäre, würde ich mutmaßen, die ganze Geschichte ist nur darum an Sie gegeben worden, weil einige ausgebuffte Oberstufenschülerinnen sich von anderen Leuten mit Ideen für ihr nächstes Sozialkundereferat versorgen lassen wollten.

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      • jj schreibt:

        Vielen Dank für die Info.
        Da sehen Sie mal, ein Sturm im Wasserglas.
        Da will man helfen, und die „engagierten“ Schülerinnen stellen sich nicht dem Dialog.
        Ich habe Sie darüber informiert.
        Chance vertan.
        lg jj

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      • jj schreibt:

        Ich war ja mal neugierig und habe Gerhard Hansen, Kirchgellersen, bei google eingegeben und natürlich bei google news. Stellen Sie sich vor, kein einziger Treffer, nicht mal im Telefonbuch. Google ist eben doch nicht alles. Schönes WE

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      • Andreas Janowitz schreibt:

        Bitte?
        Für die Google webcrawler ist kein Signifkanter traffic erzeugt? Die Signifikanzschwelle von Google dürfte bei mehreren tausend Sucheingaben liegen? Bei den Verlinkungen dürfte es ähnlich aussehen? Alle Schulen des Landkreises müssten binnen 48 Stunden aktiv werden um für Google überhaupt sichtbar zu werden? Zumal keine überregionale Aktivität verstärkend hinzukommt? Für die ist das ganz sicher ein Sturm im Wasserglas.

        Und meine Suche ergab eine direkten Treffer? Viele wissen schonmal gar nicht, das man gewünschte Begriffe mit „+“ verbinden muss, damit sehr spezielle Inhalte überhaupt aus dem Datenwust gefiltert werden können?

        Wie im Brief erwähnt ist die Schule der „Vollzeitjob“. Vieleicht hatte keiner die Zeit sich mit der evtl. überraschenden Resonanz zu befassen? Leider auch keiner der beteiligten Lehrer.
        Jetzt sind die von der stellvertretenden Leitung der Medienabteilung der Leuphana ganz sicher eingeschüchtert…

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      • Gerhard Hansen (Kirchgellersen) schreibt:

        Gerhard Hansen aus Kirchgellersen schreibt ja auch nicht „in einem offenen Brief an Medien und Politik“, dass „die Schule sich schnell und dringend erneuern muss“. Und Gerhard Hansen aus Kirchgellersen behauptet nicht, indem er an „Damen und Herren aus Politik, Medien und Wirtschaft“ appelliert und „liebe Entscheidungstragende“ sogar ganz direkt „emotional“ anspricht, für die ca. zwölf Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland eine Stellvertreterposition einzunehmen und in deren Namen ausrufen zu sollen: Was „wir“ jetzt brauchen seien „eine nationale Bildungsdiskussion und massive Bildungsinvestitionen“. Gerhard Hansen aus Kirchgellersen hat nicht Alarm geschlagen und gebloggt, dass „Bildung langfristig und dauerhaft zum Thema werden“ muss „in der Politik und in den Medien“ und dass „es“ zusätzlich „deutlich höhere Ausgaben für Bildung braucht“, damit „Ideen“, von denen leider zu sagen vergessen worden ist, um welche es sich handelt, auch „umgesetzt“ werden können. Im Deutschen gibt es ein exklusives wir („Wir sind das Volk“, – aber ihr nicht) und ein inklusives („Wir schaffen das“, – wir alle, auch Du), aber, anders als in vielen anderen Sprachen gibt es auch noch ein extensives wir, das dem Sprecher ermöglicht, sich einer beliebigen Gruppe anzuschließen, auch wenn er mit ihr gar nichts zu schaffen hat („Wir sind Papst“). Einen Satz wie: „Insbesondere wir Schüler*innen wollen die Schule der Zukunft mitgestalten“, brächte Gerhard Hansen aus Kirchgellersen niemals über die Lippen. Gerhard Hansen aus Kirchgellersen hat sich nicht, das goße Kollektiv umarmend und „es“ ungefragt vereinnahmend, hingestellt und unterstrichen: „Wir“ wollen selbst entscheiden, was „uns“ wichtig ist – „wollen mitbestimmen, was Schule sein soll“ – (und nicht etwa: sein kann).

        Das alles hat Gerhard Hansen aus Kirchgellersen nicht getan. Er hat bloß bei Google „blog.jj – Die alte Schule muss abdanken“ eingegeben und hat dann oben im hellblauen Bereich nicht „Bilder“, nicht „Videos“, nicht „Shopping“ angeklickt, sondern „News“, um zu sehen, wie viele Neuigkeiten es zu der Scharnebeck-Initiative im Netz bereits gibt, welche Spuren der dramatische Vorstoß bereits hinterlassen hat.

        Dass Gerhard Hansen aus Kirchgellersen diese Neugier plagte und er seine erstaunliche Entdeckung im Blog mitteilte, dass diesmal rein gar nichts über die Grenze dieses Blogs hinausgedrungen war, obwohl es sich um einen landesweiten, wenn nicht bundesweiten Kreis von Empfängern handelt, den die vier jungen Frauen erreichen und bewegen wollen, – dieser Wissensdrang und diese Auskunftsfreude stehen in absolut keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Notwendigkeit, dass Gerhard Hansen aus Kirchgellersen selbst „bei google, bei google news oder im Telefonbuch“ irgendwelche „Footprints“ hinterlassen hat bzw. zu finden ist. Und noch sehr viel weniger geben Gerhard Hansens Neugier und Mitteilsamkeit dazu Anlass, dass der stellvertretende Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide aus Beweggründen, die in keiner sachdienlichen Verbindung zum Geschriebenen stehen, öffentlich davon Nachricht gibt, dass der Name von Gerhard Hansen aus Kirchgellersen, weder „bei google, bei google news oder im Telefonbuch“ zu finden ist. Gerhard Hansen aus Kirchgellersen ist nämlich nicht bekannt, dass die Tatsachenfeststellung, Gerhard Hansen aus Kirchgellersen sei nicht „bei google, bei google news oder im Telefonbuch“ zu finden, auch nur das allergeringste über Gerhard Hansen aus Kirchgellersen besagt.

        Gerhard Hansen aus Kirchgellersen ist natürlich bewusst, dass die Zeiten, in denen das anders sein wird, nicht mehr fern sind, – in denen herumgezischelt werden wird, wenn Gerhard Hansen aus Kirchgellersen nicht „bei google, bei google news oder im Telefonbuch“ zu finden ist, dann kann es mit Gerhard Hansen aus Kirchgellersen nicht koscher sein, dann muss Gerhard Hansen aus Kirchgellersen „irgendwie“ Dreck am Stecken haben. Denn „Transparenz“ sei schließlich ein urdeutscher Zentralwert. Aber bis es soweit ist, beansprucht Gerhard Hansen aus Kirchgellersen, Gerhard Hansen aus Kirchgellersen sein zu können, auch ohne dass ein „recherchierender“ Redakteur seine Existenz „beweist“, indem er ihn „bei google, bei google news oder im Telefonbuch“ findet.

        Noch – ist die Fähigkeit, eine Pfeife vom Bild einer Pfeife zu unterscheiden, weit verbreitet. Wer Cybersex mit Liebe verwechselt, ist reif für die Psychiatrie. Auf die Trägheit des Körpers ist Verlass. Das Zahnweh ist nicht virtuell. Wer hungert, wird von Simulationen nicht satt. Der eigene Tod ist kein Medienereignis.

        Doch, doch, Herr Jenckel, es gibt ein Leben diesseits der digitalen Welt:

        das einzige, das wir haben!

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      • jj schreibt:

        Der geheimnisvolle Herr Hansen aus Kirchgellersen also, er versteht sich nicht nur auf anaphorische Steigerung, er schreibt sich in Rage, das ist mitunter auch amüsant. Und kommt mir bekannt vor. Oder wie wir auf dem Land sagen: Der Bauer erkennt seine Schweine am Gang. LG und schönes WE, aber bitte keine weitere Suada.

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      • Gerhard Hansen (Kirchgellersen) schreibt:

        Gewiss, Herr Janowitz!

        Trotzdem werden Sie mir zugeben, dass es eine missliche Sache ist, einen öffentlichen Brief in einem öffentlichen Dialogforum an „Damen und Herren aus Politik, Medien und Wirtschaft“ sowie an „liebe Entscheidungstragende“ zu adressieren, um „eine nationale Bildungsdiskussion“ anzustoßen und „massive Bildungsinvestitionen“ auf den Weg zu bringen, wenn der „Vollzeitjob“ Schule es den Autorinnen und ihren Coaches zeitlich und „energiemäßig“ nicht erlaubt, „sich mit der evtl. überraschenden Resonanz“ von sage und schreibe 34 Leserkommentaren zu befassen.

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      • Andreas Janowitz schreibt:

        Herr Gerhard Hansen aus Kirchgellersen meint also es wird hier unumwunden allen einen Bären aufgebunden?

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      • Gerhard Hansen (Kirchgellersen) schreibt:

        „Unumwunden“, also freiheraus, offen und unverblümt wohl eben nicht. Eher „verdruckst“, also scheu, geniert und leider wenig geradlinig. Auch das grobe, astende Hochwuchten des Bärenaufbindens will nicht recht zu den jungen Menschenkindern passen. Wenn wir bei Ihrer Tierfamilie bleiben wollen, Herr Janowitz, scheint mir das Bild des Nasführens angemessener: http://www.physiologus.de/bilder/nasfuehr.gif

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      • Suse schreibt:

        Kennt ihr Milgrams Experiment? Dort ging es vermeintlich auch um das Verhältnis von Schülern und Lehrern. In Wirklichkeit aber um Autorität und Gefolgschaft. (Für mich ist das übrigens einer der eindrucksvollsten Feldversuche der neueren Psychologiegeschichte. Und überdies einer, der besser als vieles andere das Verhalten von AfDlern und anderen Herdentieren erklärt.)

        Ein ähnlicher, allerdings – unfreiwillig – total in die Hose gegangener Versuch stammt von Ernst Jordan, Lüneburgs größtem Spaßvogel, der gelegentlich für die taz, ab und zu für den Postillon und praktisch stündlich für seinen ausgesprochen wenig erfolgreichen Twitteraccount (@DasErnstBeste) schreibt. Ernst hat als erster lebender Leuphanatiker vorgemacht, was inzwischen zu einem beherrschenden Trend moderner „Kommunikation“ in Lüneburg geworden ist: dasjenige in der Form selbst zu exemplifizieren, was in actu inhaltlich gerade kritisiert, gegeißelt oder verworfen wird. Niemand hat je so ernst wie Ernst über „Mansplainig“ gemansplaint: https://www2.leuphana.de/univativ/mansplaining-ein-kommentar/

        Vielleicht habt ihr euch hier als bildungsignorante Bildungsignorantenverdammer geoutet? So nach dem Motto: „Ich bin kein Rechthaber! Ich weiß es wirklich besser!“ Schon mal drüber nachgedacht?

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      • Gerhard Hansen (Kirchgellersen) schreibt:

        Hallo Suse,
        wer zu einer schwierigen Frage differenziert Stellung nimmt, sitzt also schon in der Falle, weil er andere überfordert, „zutextet“ oder, wie Herr Jenckel tadeln würde, „sich in Rage redet“? Dein generalisierender Vorwurf der „Rechthaberei“ klingt ein wenig sehr nach Rainer Mencke und Jens-Peter Schultz, die aus ihren behaglichen, warm eingesessenen Komfort-Fauteuils heraus jedem auf der Stelle das Etikett „Bedenkenträger“ an die Stirn tackern, der anderer Meinung ist als sie selbst. Man könnte wie das Scharnebecker Kollektiv-Ich entweder sagen: „Ach, Argumentieren… kein Drama, es gibt Wichtigeres: Familie zum Beispiel, meine Freunde, Glücklich zu sein, …“ oder: „Plausibel zu argumentieren, ist keine Pflicht, sondern unsere freie Entscheidung. Anscheinend haben wir also alle ein gewisses Bedürfnis nach Vernunft.“ Die Frage ist nur: nach welchen Gesichtspunkten wird für das eine und gegen das andere entschieden? Wer befindet über die Gültigkeit solcher „Kriterien“? Und wo steht eigentlich geschrieben, dass es nur ein Entweder-oder geben kann, aber kein Sowohl-als-auch?

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  8. Jürgen Kern schreibt:

    „Wenn ich das Wort ›System‹ höre, dann sichere ich mir einen Brownie.“

    Wer hatte das doch gleich noch den leeren Abstrakta entgegen gegrummelt?

    Anti-BlauBlut, Sie machen zwei wichtige Punkte: (1) „Man müsste die Familie mit Kindern unter dem 7. Lebensjahr insofern stärken, als dass ihr bedingungslos alles gestellt wird, was sie zum Wachsen [der seelischen Stabilität des Kindes] benötigt.“ Die Frage ist, was daraus folgte, wenn das tatsächlich als Ziel ausgerufen würde. Ein Umsturz aller Verhältnisse wäre wohl für den das Mindeste, der die Berichte während der letzten zwei Wochen über die entsetzlichen Fälle von schwerer häuslicher Gewalt in vielen Millionen (bio-)deutscher Familien verfolgt hat. (2) „Die immer krasser, immer früher in Schulen Einzug erhaltende ›Digitalisierung‹“, die, wie Sie zu Recht betonen, auf die „Gamifizierung“ praktisch aller Lebensbereiche vorbereitet. Wer starke Nerven hat und tatsächlich wissen möchte, worauf das alles hinausläuft, und außerdem bisher noch keinen Weihnachtswunsch geäußert hat, der sollte sich das eben erschienene Buch des langjährigen China-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung schenken lassen: Kai Strittmatter: „Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert“. Piper, München 2018. 288 Seiten, 22 Euro. Zu einem Zeichen bewahrter (oder frisch gewonnener) „Bildung“ darf jeder Leser sich gratulieren, der am Ende herausgefunden hat, dass ihm so nicht nur die bedrückende Gegenwart Chinas näher rückte, sondern die unmittelbare Zukunft Lüneburgs ebenfalls.

    Die Schulen müssen digitalisiert werden. So schwakt es von Hannover bis Husum. Wieviele hundert VW-Milliarden wird es kosten, wirklich alle Schüler mit dem auszustatten, was man sich an Servern, Clouds, W-Lan-Anschlüssen und Endgeräten (Smartphones, Tablets, PCs) so vorstellt, (hinzu kämen natürlich die „digitalisierten“ Schulbücher, eigens für die Schule entwickelte Lernprogramme plus Sicherheitssoftware – auf Kreidetafeln konnte keiner Videos hochladen, die unter den Jugendschutz fallen –, samt all den Weiterbildungskursen, die für eine Digitalisierung auch der Lehrerschaft sorgen sollen)? Man kann den Schulträgern schon jetzt viel Tapferkeit beim Durchkalkulieren des Modells „Digital first, Bedenken second“ wünschen.

    Doch weil „das Land“ es sich nicht leisten kann, alle Schulen „digital“ auszustatten, wird längst ganz ungeniert ein Vorschlag gemacht, wie private Initiative hier helfen kann. Die Schüler hätten ja schon fast alle ein Smartphone, sollten sie es doch in den Unterricht mitbringen dürfen. Wie viele „fast alle“ sind, ist dabei nur die eine Frage, an der ein paar Fußnoten zum Thema „Lehrmittelfreiheit“ hängen. Die viel wichtigere zweite wäre, was die Schüler in den Klassenzimmern denn mit ihren Telefonen machen sollen. Allgemeiner formuliert:

    Was ist denn, wenn die digitale Industrie ihr großes Geschäft mit den Schulen (etwa elf Millionen Schüler) gemacht haben wird, der Beitrag des Internets als Lehrmittel? Wenn alle Geräte verteilt, an jeder Schule Geräteverwalter und Techniker eingestellt, alle Sicherheitsprobleme gelöst sind und nach dem ersten Jahr digitaler Schule auch feststeht, wie hoch der Verschleiß ist – auf welche Weise bewegt sich denn dann der Unterricht in Richtung Zukunft?

    Sind Smartphones in Händen von Kindern und Jugendlichen in erster Linie wirklich „Instrumente der Wissensgesellschaft“? Wenn am Sonntagabend auf dem Hany eines Zwölfjährigen 150 Whatsapp-Meldungen eingetroffen sind, beweise das, die „Erklärung“ hört man, dass solche elektronische Gruppenbildung nötig sei, um sich über Hausaufgaben auszutauschen. Die Schüler sind heute genauso wenig um solche Sprüche verlegen wie frühere Generationen.

    Es sind die Erwachsenen, die inzwischen gern auf jede Phrase hereinfallen, solange sie sich nur nach Zukunft, Innovation und Silicon Valley anhört. Phrasen wie „Standortsicherung“ sind Herrn Althusmann nicht zu dumm – als müsse um des Hervorbringens von mehr Informatikern willen die gesamte Schule digitalisiert werden. Phrasen wie „individualisiertes Lernen“ – bei gleichbleibender Verarbeitungskapazität des Lehrers? Phrasen wie „Internetkompetenz“ – als hätte die irgendjemand von denen, die sie für Schüler fordern, oder könnten die auch nur sagen, worin sie denn bestünde. Phrasen wie „Multitasking“: Neun von zehn College-Studenten in den Vereinigten Staaten gaben schon vor fünf Jahren an, dass sie während des Unterrichts Nachrichten versendeten. Dass weniger gelernt wird, wenn die Laptops aufgeklappt sind, ist vielfach nachgewiesen und auch nicht erstaunlich. Es gibt so viel Lustigeres als Lernen oder auch nur Zuhören. Und das sollte für Jüngere in den Schulen anders sein?

    Das Gegenargument, auch früher hätten die Schüler Wege gefunden, um sich geistig aus dem Unterricht davonzumachen, greift am Problem vorbei. Denn gefragt wird ja nach dem Nutzen der Digitalisierung, nicht danach, ob die gelangweilte oder sich ablenkende Klasse vermieden werden kann. Kann sie es nicht, müssten dafür auch nicht die Schulen umgerüstet werden. Und zwar zu Kosten, die einmal jemand in Lehrerstellen umrechnen sollte, damit die Dimension des Unfugs sichtbar wird, der gerade als bildungspolitische Notwendigkeit gilt.

    Was ist uns lieber, fragt Herr Bruns: eine reiche oder eine kluge Bevölkerung? Solange Schulen und Universitäten nicht zur Selbständigkeit erziehen, sind wir von beidem weit entfernt.

    Immer wenn Konjunkturprogramme diskutiert werden, mit denen die Bundesregierung jetzt zum Beispiel den Folgen der gigantischen Betrügereien in der Kfz-Branche entgegenwirken will, fallen den Beteiligten nach den Automobilen und den Straßen (bzw. Brücken) zuletzt auch noch die Schulen ein, für die man Geld ausgeben könnte. Dass es einer drohenden (selbstfabrizierten) Wirtschaftskrise bedarf, um besondere Maßnahmen zur Instandsetzung von Schulgebäuden zu motivieren, hat eine eigene Aussagekraft. Wir restaurieren Schulen nicht, weil sie uns am Herz liegen und anderes als intakte Schulen für ein wohlhabendes Land eine Schande wäre, sondern damit es die Konjunktur beleben möge. Im Zweifel würden wir, dieser Logik zufolge, eine reiche Bevölkerung einer klugen vorziehen.

    Das fällt in den Bildungsdebatten unserer Tage nur darum nicht auf, weil sie es zum Gegensatz von Industrie und Bildung erst gar nicht kommen lassen. Für die meisten Politiker sind Bildungsfragen ganz unmittelbar und in erster Linie Fragen des Erhalts von industriellen Arbeitsplätzen. Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft, hieß es einmal. Und wenn die Zukunft die Wirtschaft ist, dann hat, wer die Bildung hat, auch die Wirtschaft.

    Darum gehen Bildungsreden seit langem so: Zuerst wird betont, dass wir in einem rohstoffarmen Land leben. Wir haben weder Erdöl noch Gold oder Aluminium. Zwar gibt es bei näherem Nachdenken gar kein rohstoffreiches Land, in dem man gerne leben möchte; die allermeisten davon sind hundsarm, verödet und in der Hand von Räuberbanden. Aber die typische Bildungsrede will ja nicht selbst Kenntnisse demonstrieren, ihr genügt es, deren Mehrung für andere in Aussicht zu stellen. Also folgert sie aus der Rohstoffarmut, dass wir nur „unsere Köpfe“ haben. An dieser Stelle muss dann das Wort „investieren“ fallen. Wir müssen in die Köpfe investieren, denn sonst droht unser Weltmarktabsturz.

    Hier erscheint es den Bildungsreden eindrucksvoll, die Zahl der Ingenieure zu erwähnen, die von den indischen und chinesischen Universitäten ausgebildet und demnächst gegen uns arbeiten werden. Da diese Zahlen irgendwo in der Nähe der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung liegen, verstärkt das einen Eindruck, auf den man in der Bildungsrede später noch zurückkommen kann und der vor allem Hochschulpräsidenten im Publikum mit den Köpfen nicken lässt, den Eindruck nämlich, dass wir langfristig um eine vollständig durchpromovierte Bevölkerung kaum herumkommen werden. Gern verwendet wurde bis vor kurzem auch die Zahl der deutschen Nobelpreisträger nach 1945. Jene Zahl ist zuletzt, zumindest gefühltermaßen, sprunghaft angestiegen, bedauerlicherweise ohne jeden erkennbaren Zusammenhang mit Bildungsreformen. Das dürfte diese Kenngröße ein paar Jahre lang für Bildungsreden ungeeignet machen.

    Je nach politischer Couleur und Amt wird an dieser Stelle der Bildungsrede dann die Abzweigung zu einer Klage darüber genommen, dass wir zu wenig in unsere Köpfe investieren. Oder man weist umgekehrt darauf hin, was in den vergangenen Jahren schon alles zur Besserung der Bildungslage geschehen ist. So oder so fällt das Wort „Begabungsreserve“. Das kann in einem Abschnitt darüber geschehen, dass das deutsche Bildungssystem – gemeint sind hier die Schulen – zu viele Talente auf der Strecke lässt, weil es hochgradig ungerecht ist. Dafür werden wahlweise Pisa-Zahlen zitiert, Befunde über die Schullaufbahn von Kindern bildungsarmer Kreise, OECD-Vergleiche, nach denen es andernorts ganz anders zugeht, oder den aktuellem Anteil von Arbeiterkindern an der Studentenschaft.

    Hat man auf diese Weise einen hohen Handlungsbedarf nachgewiesen, bleibt noch, ihm die Richtung zu weisen. Das ist nun nicht mehr schwer, denn Zahlen, die zu gering sind, rufen zu ihrer Erhöhung auf: Wir brauchen mehr Abiturienten und mehr Studenten. Derzeit sind gut vierzig Prozent eines Jahrganges studienberechtigt, gut dreißig Prozent studieren. Setzen wir uns also zum Ziel, diese Anteile um, sagen wir: zehn Prozent zu steigern.

    Abiturienten sind außerdem meist Gymnasiasten, und Gymnasiasten sind Schüler, die nicht auf der Haupt- oder Realschule sind. Setzen wir uns also das Ziel, erst die Haupt- und dann die Realschule abzuschaffen, das dürfte die Zahl der Abiturienten erheblich erhöhen. So lautet an dieser Stelle die sozialdemokratische Redevariante. Bei ihr ist allerdings – Achtung, Profilschärfung! – nicht von „Abschaffung des Gymnasiums“ zu sprechen, sondern von „länger gemeinsam lernen“. Christdemokraten halten davon wenig, weshalb ihnen aber nur bleibt, eine Erhöhung der Bildungsquote durch Herabsetzung der Leistungsanforderungen zu erwirken. Denn wo sonst soll sie herkommen, die effiziente Bildungsvermehrung? Wenn an Hamburger Realschulen ein Schüler, der in einer Klassenarbeit die Hälfte der gestellten Fragen beantworten kann, inzwischen eine Zwei erhält – es gab Zeiten, da reichte dies in jeder Schulform gerade mal so eben für ein „ausreichend“ -, dann ist das Hinweis auf die auch beim Abitur erforderlichen Maßnahmen. An den Hochschulen wird bereits seit einiger Zeit so verfahren.

    Wir brauchen, sagt die Bildungsrede, „mehr Bildungsbeteiligung“. Zugleich sollen aber auch alle Bildungsbeteiligten sich schneller bilden. Deshalb wurde flächendeckend die achtjährige Gymnasialzeit eingeführt, es war ja „Luft im System“ (besinnungslos voranpeitschende Kraft in Niedersachsen war Herr Althusmann); in demselben System, das zunehmend studierunfähige Absolventen hervorbringt, denen von den Hochschulen – ebenfalls in kürzerer Zeit und darum ebenfalls unter Entwertung der Abschlüsse – das Prozentrechnen und das Bücherlesen beigebracht (und später per „rite“ über den „Potsdamer Zaun“ in Richtung „Doktortitel“ geholfen) werden muss. Und sie sollen natürlich in der kürzeren Zeit auch mehr von dem lernen, was sie für die Globalisierung wirklich brauchen: Wirtschaftskenntnisse, Chinesisch oder Spanisch, Medienkompetenz, Gesundheitskunde, Teamfähigkeit, Präsentationstechniken, Ethik. Natürlich sind auch Latein (Abendland), Musik und Tanz (der ganze Mensch) Mathematik (Ingenieursbedarf) und Biologie (Gentechnik) „wichtiger denn je“. Mehr Stoffe, schneller, für immer größere Kreise, bei konstanten Ausgaben – nun, es sind Wertereden, die keine Rücksicht auf Knappheiten oder den Verstand nehmen müssen.

    Bildungsreden haben oft etwas Deprimierendes. Nicht nur, weil sie so undurchdacht sind, und auch nicht, weil es keine Taten gäbe, die man auf sie beziehen könnte. Leider gibt es solche Taten durchaus. Wir kennen sie unter dem Titel „Reform“, und sie sind seit zehn Jahren dabei, unsere Universitäten ganz sinnlosen Dauerbelastungstests auszusetzen und das Lehrpersonal an den Schulen zu zermürben. Die Tristesse der gängigen Bildungsrede besteht vielmehr darin, dass sie sich Bildung nur als eine Durchgangsstation zu etwas Besserem vorstellen kann: zu Wohlstand, Aufstiegsmobilität, Wettbewerbsfähigkeit.

    Gewiss wäre es töricht, den Zusammenhang zwischen einer gut ausgebildeten Bevölkerung und dem Wohlstand eines Landes zu leugnen. Aber angenommen, der Wohlstandszuwachs bliebe auch mit mehr Abiturienten und besseren Hochschulen und einer intelligenten frühkindlichen Erziehung aus, weil selbst finnische oder kanadische Bildungsverhältnisse nicht verhindert hätten, dass die Lehman-Bank den Bach heruntergeht. Angenommen, man studierte und stiege trotzdem nicht auf. Wäre Erziehung dann gescheitert? Hätten wir uns dann die Kosten und die Zeit für Bildung lieber gespart? Das Elend der Bildungsdebatte liegt in der Unfähigkeit, die Schule als Schule und die Universität als Universität wertzuschätzen: ihre Anforderungen, ihren Eigensinn, ihre besten Traditionen.

    Das reicht bis in elementare Einstellungen hinein. Wer heute ein Kinderspiel erwirbt, muss damit rechnen, dass auf der Packung gut sichtbar festgehalten ist, das Spiel fördere die „Feinmotorik“, die „Auge-Hand-Koordination“ und „das freie Spiel“ des Kindes. Es handelte sich in unserem Fall um neun kleine Holzkegel samt Kugel. Solche Aufschriften dokumentieren recht gut das gegenwärtige Verhältnis zu Bildungsfragen. Ehedem Selbstverständliches – Kind und Kegel – wird in einen Leistungszusammenhang gebracht, der seinerseits aber wie eine Parodie von Leistung wirkt. Mitgeteilt wird, das Spiel fördere das Spielen. Wie überhaupt alles, was das Kind angeht, so haben auch Spiele es zu fördern: seine Fähigkeiten, wahlweise auch sein Gehirn oder seine Chancen. Nicht nur das Kegeln, sondern jegliche Form von Bildung wird dabei betrachtet wie ein Mittel, das dem Nachwuchs zur Stärkung verabfolgt wird und zuvor auf seinen Vitamingehalt zu prüfen ist.

    Wenn Bildung als ein solches Vitamin erscheint, wird an den Schulen nicht mehr gelesen und gerechnet, weil Bücher wie Zahlen hintersinnige Objekte sind, weshalb sie die Phantasie anregen und den Verstand herausfordern, sondern weil Texte die Lesekompetenz und mathematische Aufgaben die Rechenkompetenz fördern. Das Wort „Kompetenz“ hieß früher einmal „Zuständigkeit“, ist aber inzwischen als betriebswirtschaftlich-erziehungswissenschaftlicher Doppelbalg zum geschwollenen Ersatzbegriff für „Können“ geworden. In der Folge gibt es nichts mehr, wozu man nicht kompetent gemacht werden kann: Teamkompetenz, interkulturelle Kompetenz, Digitalkompetenz, Konfliktkompetenz, Unterstreichkompetenz. Dies alles sind keine erfundenen Fälle, sondern Einträge in der endlosen Liste der Unterrichtsziele neuester Pädagogik.

    Das Ideal des Unterrichts, vom Kindergarten bis zur Hochschule, sind dann der Methodenkurs und das Kommunikationstraining. Und tatsächlich war es der Eindruck von Beliebigkeit, den die Unterrichtsgegenstände auf viele Erziehungswissenschaftler machen, der sie zu der Ansicht führte, es komme in der Schule nicht auf die Geometrie, die Physiologie der Pflanzen oder Kleists Novellen als solche an, sondern auf „das Lernen des Lernens“. Die eigentlich interessanten Dinge, sagt das, kommen nach der Bildung. Irgendwann hat sich dieser Eindruck auch den Schülern und Studenten mitgeteilt. Vielen von ihnen erscheinen Abitur und Studium inzwischen nur noch als Hindernisse, die sie vom wirklichen Leben trennen. An den (immer stärker leuphanatisierten) Universitäten wird ihnen diese instrumentelle Einstellung zum Lesen, Denken und Problemelösen unter dem Titel „Bologna-Prozess“ heute geradezu aufgezwungen.

    Was ist Bildung stattdessen? Zunächst einmal ist sie weniger das Vermögen mitzumachen, als dasjenige, einen Schritt zurückzutreten. Darin steckt, wohlverstanden, keine Polemik gegen die Berufswelt. Sondern nur eine gegen die Vorstellung, es nütze diesen Berufswelten und den Organisationen der Wirtschaft, der Politik, der Erziehung oder des Rechts ungeheuer, wenn ihr Personal nach Art von Tennisspielern agiert, bei denen das Nachdenken dem erfolgreichen Reflex im Weg stünde. Bildung ist keine Technik zur Vermeidung von Schwierigkeiten. Kleists Novellen, die Geometrie und die Physiologie der Pflanzen eignen sich vielmehr als Gegenstände des Unterrichts, weil sie voller Schwierigkeiten stecken, an denen man auch scheitern kann.

    Jemanden erziehen heißt, ihn mit der Fähigkeit zu begaben, sich gegenüber seiner Umwelt eigensinnig zu verhalten, um Schwierigkeiten und Möglichkeiten zu sehen, die anderen nicht auffallen. Freiheit ist, anders als es manchen Liberalen vorkommt, keine Naturausstattung, sie setzt Kenntnis ihrer Umwelt voraus. Der große Liberale John Stuart Mill nahm genau darum die Schulen von seinem Plädoyer für die Entstaatlichung der Gesellschaft aus. Wer nicht weiß, wovon er redet, kann sich auch nicht aus eigener Kraft zustimmend oder abweichend dazu verhalten. Bildung ist insofern zwar nicht Erziehung gegen die Umwelt der Bildungseinrichtungen, aber gegen die Sprüche, die aus ihr auf die Jugendlichen einströmen.

    Die alte bürgerliche Analogie von Bildung und Arbeit beruhte auf diesen Eigenschaften. Als der Begriff „Bildung“ im achtzehnten Jahrhundert prominent wurde, ging es um Erziehung zur Individualität. Gebildet sei, hieß es, wer über sich selbst nachzudenken vermöge. Der Schüler wurde als Person vorgestellt, die sich durch Lernen an Natur, Geschichte, Kunst und Sprache selbst anreichert. Kurz: Der Unterricht soll es dem Schüler ermöglichen, herauszufinden, was alles in ihm steckt. Alles – das heißt eine ganze Welt, nicht nur eine Berufskarriere. Die Schule erzieht nicht nur zur Berufsfähigkeit, sie erzieht beispielsweise auch Staatsbürger und Familiengründer, Menschen also, die ihr Leben selbständig führen sollen und das in einer Gesellschaft, in der viele lieber singen lassen als selbst singen, in der es also Delegationsmöglichkeiten selbst für Dinge gibt, die man besser selbst täte: Lesen, Rechnen, Schreiben, Denken.

    Die Bildungskatastrophe liegt also nicht darin, dass uns oben ein paar Pisa-Punkte fehlen, sondern dass uns unten eine Bevölkerung entsteht, die zu elementarer Selbständigkeit nicht mehr in der Lage ist. Und sie liegt darin, dass wir, um Schwierigkeiten zu umgehen und Härten zu vermeiden, Bildung als etwas Leichtes, mittels didaktischer Tricks und Prüfungen, durch die man nicht fallen kann, leicht zu Erwerbendes vorstellen. Die Aversion der Gymnasiasten gegen Mathematik und die daraus folgende Abstinenz gegenüber dem Ingenieursstudium rührt aus der Kontrasterfahrung zu restlichen Schule: Warum auch sollte man etwas studieren, an dem man scheitern kann?

    Was kann in einer solchen Lage getan werden? Dreierlei drängt sich auf. Zunächst wäre es nötig, die Zeit der Reformen zu beenden. Seit Jahrzehnten werden die Bildungseinrichtungen von ihnen und einer Reformklasse heimgesucht, die im Ändern einen eigenen Beruf gefunden hat. Ein älteres Wort dafür war Beschäftigungstherapie, heute müsste man von einer Therapieselbstbeschäftigung sprechen, die zu Lasten der Intelligenz unserer Bildungseinrichtungen geht. Ihr Imperativ lautet „Ganz anders als bislang!“, was folgerichtig nach ein paar Runden zur Wiedervorlage aller älteren Modelle unter zwischenzeitlicher Entnervung sämtlicher Betroffenen und einem absurden Zeitverbrauch führt. Hat schon einmal jemand ausgerechnet, wie viele Stunden an Unterricht, Lektüre sinnvoller Texte oder Experimenten im Labor uns die Reformen gekostet haben? Die Zahl dürfte weit über das hinausgehen, was für gute Bildung nötig wäre. Ja, es gibt Luft im System.

    Genau so wichtig, wie sie entweichen zu lassen und das ständige Evaluieren, Strukturändern und Strukturänderungenzurücknehmen zu beenden, wäre es, damit aufzuhören, von der Bildung, den Schulen und Hochschulen zu verlangen, was sie nicht leisten können: die Abschaffung der Unterschicht etwa oder die vollständige Kompensation von Gleichgültigkeit gegen Bildung in vielen Milieus. Es ist widersinnig, erst den Begriff der Bildung, den Unterricht und das Studium zu entleeren, sie danach mit Aufgaben anzufüllen, die in die Zuständigkeit der Sozialpolitik, des Managementtrainings oder der Familien fallen, um ihnen zuletzt bei Nichtbewältigung dieser Aufgaben Versagen vorzuwerfen. Wir überfordern und unterfordern die Schulen und Hochschulen zugleich.

    Damit aufzuhören leuchtet aber nur ein, wenn man einen Begriff von der eigenen Leistungsfähigkeit des Bildungssystems hat und ihm als Funktion zubilligt, nicht die reichere, die gerechtere, die moralischere oder die besser telefonierende Gesellschaft hervorzubringen, sondern nicht mehr und nicht weniger als wachere, wahrnehmungsfähigere, kenntnisreichere Bürger. Die, das wäre der Optimismus der Bildung, würden sich dann auch von einer noch so abstrakt umkeiften und umfaselten „Systemkrise“ nicht in Frage gestellt sehen.

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    • Klaus Bruns schreibt:

      Hallo Herr Kern
      ihre,,rede“ sollte man im landtag und im bundestag halten. ich befürchte nur, die dort vertretenen lobbyverbände würden weder zuhören , noch richtig darauf reagieren. der googel-effekt macht sich heute doch schon in den schulen bemerkbar. in den berufsschulen sieht man die folgen der wirtschaftsgläubigkeit an den immer weiter ausgedehnten berufsbildern noch besser. die wirtschaft bestimmt diese berufsbildererweiterungen immer mehr und warum das alles? damit in den firmen möglichst viel an ausbildungskosten gespart werden kann. sie hoffen auf facharbeitereinwanderungen. dieses erspart dann noch mehr ausbildungskosten und die damit verbundenen verantwortung der jugend gegenüber. es wird sich immer mehr vor der verantwortung des eigenen tuns gedrückt. die elitäre gesellschaft führt es vor und die jugend macht es ihr nach. kinder ahmen eben gern ihren ,,vorbildern“ nach.

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  9. ANTI BLAUT BLUT schreibt:

    Kritik am Bildungssystem befürworte ich bei den momentanen „Zuständen“ in der Bildung prinzipiell erstmal grundsätzlich. Gleichzeitig sieht man an den Kommentaren jedoch dass man inzwischen verflucht umfassend starten sollte. Liegt wohl daran dass in der Politik so wenige Stimmen laut werden gleichzeitig aber immer mehr Menschen schlicht und ergreifend merken dass etwas nicht stimmt. Und da reicht es nicht so spät anzusetzen. In diesem Beispiel bleibend, wird es sicher auch eine ganze Hand voll Studierende geben die absolut kein Problem sehen. Und zwar weil sie keines wahrnehmen. Man könnte also eher die Frage stellen wieso anscheinend auch die Schere hinsichtlich eigener emotionaler Stabilität, Belastbarkeit, Sozialfähigkeit, usw. immer größer wird.
    Die ersten 7 Lebensjahre sind dabei entscheidend wodurch deutlich wird warum zur Behebung des Problems vor dem wir stehen deutlich früher angesetzt werden muss und gleichzeitig dass die Arbeit und die Art der Familienstrukturen in Deutschland unabdingbar teil einer Reform darstellen müssen.

    Man müsste die Familie mit Kindern unter dem 7. Lebensjahr insofern stärken, als das ihr bedingungslos alles gestellt wird was sie zum wachsen benötigt. Eltern müssen arbeiten dürfen aber dürfen nicht arbeiten müssen in dieser Zeit. So kann die Bedeutung von Familie wieder ansatzweise gewonnen werden und das Kind stabilisiert. Dann muss Trauma basierte Persönlichkeitsspaltung, das Fördern und Belohnen von einseitigem Denken sowie fremddatiertes Bewerten und Überemotionalisierung in völlig Schwachsinnigen Bereichen aus dem Bildungssystem verbannt werden um die in der Familie gewonnene Stabilität nicht wieder einzureißen. Wäre dies flächendeckend gegeben, sähe auch das spätere Leben in den Augen vieler wieder deutlich umsetzbarer, ertragbarer aus.

    Heute muss stattdessen noch ein weiterer Punkt angesprochen werden. Die immer krasser immer früher in Schulen Einzug erhaltende Digitalisierung. Dieser geisteskranke Zustand formt eine Gesellschaft der Abhängigkeiten, auf unterschiedlichen Ebenen. Wir wissen aber, um es kurz zu halten, dass uns in jedem Falle, die Benutzung solcher Geräte (PC, Laptop, Smartphone, Tablet, etc.) Dopamin ausschütten lässt. Die exakt gleiche Chemikalie die ausgeschüttet wird wenn wir uns glücklich fühlen weil wir rauchen, trinken oder Glücksspiel betreiben. Kurzum, hochgradig süchtig machend. Wenn wir das weiter ausbauen werden auch Dinge wie Kommunikation zur Stressbewältigung aussterben. Werden auch Dinge wie Ausdauer aussterben. Werden auch Dinge wie Selbstwert usw. aussterben.

    Will sagen, ja, das Bildungssystem wird immer kranker. Trotzdem könnte es mit stabilen Menschen funktionieren aber das Problem liegt tiefer.
    Die Kurzform wäre: Was passiert in Schulen eigentlich wirklich? Antwort: Die Bewusstwerdung (viele andere Dinge aber sie ist zentraler Bestanteil) Und nun muss man aber unterscheiden zwischen:
    I. Der Bewusstwerdung eines Menschen im Sinne seines Selbst und
    II. Der Bewusstwerdung eines Menschen im Sinne anderer (z.B. der Wirtschaft)
    In Schulen passiert letzteres und das ist fatal. Denn das ist das was dahinter steht:
    I. So wie ich bin bin ich gut, also ist die Welt gut. Also bin ich gut zu allem in ihr. Ich liebe mich so wie ich bin und kann also auch Liebe in die Welt tragen (so wäre es wünschenswert)
    II. So wie ich bin soll ich nicht sein, bin ich nicht gut, also ist die Welt nicht gut. Ich habe nie gelernt zu lieben also kann ich auch nichts in die Welt tragen (Wirtschaft: Doch! Wenn du fleißig genug arbeitest und viel Geld verdienst, dann darfst du dich selbst lieben dann bist du wer!“)

    Es wäre doch wünschenswert wieder zum Ersteren zu gelangen. In Wahrheit gingen daraus Menschen hervor die selbst im wirtschaftlichen Sinne deutlich effizienter wären. Aber ich fürchte diese Vorstellung wird noch lange ein Wunschtraum darstellen.

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  10. Klaus Bruns schreibt:

    Konstantin Hilscher
    kleiner schwank aus meiner familie. mein sohn hat während er einen beruf gelernt hat, sein abi gebaut. warum? er sagte mir: ich habe keine lust für einen hungerlohn zu arbeiten. tja, jetzt stellt er gerade fest, auch sein abi schützt ihn nicht vor der ausbeutung. was faust angeht, wer tut sich den freiwillig an? schmunzeln. mutter courage finde ich da besser.

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  11. Gitti Führinger schreibt:

    Liebe
    Jana Bobrowska,
    Philine Ahlf,
    Lena Bickel,
    Antonia Kiesecker,

    schade, dass ihr auf keinen der Kommentare,
    die ihr ausgelöst habt, mit einer Antwort reagiert.

    Wichtiger als der kritische Dialog mit euren eigenen Lesern
    in eurer unmittelbaren Nachbarschaft
    scheinen euch die weit entfernten „Damen und Herren aus Politik,
    Medien und Wirtschaft“, die „Entscheidungstragenden“, zu sein,
    die ihr auffordert, „Wahlkampf mit Bildungsthemen“ zu machen
    und „Bildungskongresse zu veranstalten“, die dann – vielleicht –
    „einen Dialog zwischen theoretischen und praktischen Expert*innen
    sowie Politiker*innen und engagierten Bürger*innen ermöglichen“
    k ö n n t e n.

    Vielleicht!

    Aber einen Dialog zum Beispiel mit mir
    zum Beispiel über den kleinen, luziden Essay
    des weltberühmten schweizer Philosophen und Schriftstellers
    Professor Dr. Peter Bieri (Pascal Mercier) über die Frage,
    „wie es wäre, gebildet zu sein“, und über die Frage,
    wie das darin Gesagte sich mit euren „Forderungen“ verträgt,
    diesen Dialog wollt ihr offenbar nicht führen.

    Schade!

    Eine „nationale Bildungsdiskussion und massive Bildungsinvestitionen“
    kann ich euch – jedenfalls im Augenblick – nicht bieten,

    nur einen Gedankenaustausch im Rahmen dieses Blogs,

    quasi eine Vorübung beim Versuch, gedankliche Regeln
    „kreativ und innovativ“
    anzuwenden.

    Aber zum Dialog gehört nicht nur Dialogfähigkeit,
    sondern auch Dialogbereitschaft.
    Das ist im Nahen so und auch
    im Fernen.

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  12. Klaus Bruns schreibt:

    weiß ein gymnasiast eigentlich etwas von den sorgen und nöten eines haupt, oder realschülers? ich habe festgestellt, gerade die, denen es noch am besten geht, jammern grundsätzlich am lautesten. eltern von gymnasiasten jammern da um die wette. und warum? ,,da werden sie geholfen“. gleich und gleich unterstützen sich nun mal gern. ist wie bei akademikern vor gericht. wie heißt es in diesen kreisen so schön: mein kind muss bei zeiten lernen, die ellenbogen rauszustrecken. egoisten werden nun mal nicht geboren, sondern erzogen.
    wie ist es, gibt es auch ein echo von der,,viererbande“ ,oder sind ihnen die anderen schulen egal?schmunzeln.

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  13. Brigitte Führinger schreibt:

    Liebe
    Jana Bobrowska,
    Philine Ahlf,
    Lena Bickel,
    Antonia Kiesecker,

    was wollt ihr konkret?
    Macht eine Liste in Stichworten.
    Unabgesprochen.
    Jeder zehn. Ohne langes Überlegen. Verdeckt.
    Dann setzt die Listen her.
    Auch Überschneidungen sind informativ.
    Diskussionen sind immer gut.
    Aber es muss dabei um fassbare Inhalte gehen.
    Da hat Otto recht.
    Sonst versandet alles in einer großen Laberei und vielen vagen Absichtserklärungen.
    Zehn Jahre danach will’s dann keiner gewesen sein, der alles vergessen hat.

    Das Beste, was ich allgemein über Bildung sagen könnte und sagen würde, hat vor zehn Jahren ein anderer aufgeschrieben:

    Klicke, um auf Wie_waere_es_gebildet_zu_sein.pdf zuzugreifen

    Jeder Lehrer sollte diesen Text auswendig können.
    Finde ich.

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  14. Karlheinz Fahrenwaldt schreibt:

    Die heutige Bildungsrealität ist von dem humboldtschen Bildungsideal meilenweit entfern. Es geht heute nur um die Bildung zum Homoökonomikus! Bildung muss sich rechnen, muss wirtschaftlich sein und den kapitalistischen Wirtschaftsinteressen genügen. Bildung als Selbstzweck wird verunglimpft („… und was willst du später mit Philosophie anfangen?“). Es wäre gut, wenn sich die Jugend dagegen auflehnen würde!

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  15. Klaus Bruns schreibt:

    Was macht intelligent?
    :
    Heimvorteil
    Wie schlau wir werden, entscheidet sich nicht erst in der Schule. Gerade entdeckt die Forschung, welche Faktoren in den ersten Lebensjahren die entscheidende Rolle spielen.
    Von Martin Spiewak

    https://www.zeit.de/2015/22/intelligenz-erste-lebensjahre-forschung/komplettansicht

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  16. Klaus Bruns schreibt:

    Abitur zu machen ist keine Pflicht, sondern unsere freie Entscheidung. Anscheinend haben wir also alle ein gewisses Bedürfnis nach Bildung.
    ist das wirklich so, oder ist es nicht so, dass man von dem kuchen, der einem gezeigt wird, möglichst ein großes stück ab haben will ?

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    • Konsti schreibt:

      Wann werden Sie zugreifen, Herr Bruns?

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      • Klaus Bruns schreibt:

        Wann werden Sie zugreifen, Herr Bruns? gar nicht. dafür bin ich zu sozial eingestellt. ich mag menschen nicht, die mir gern unterstellen wollen: wenn sie an deren stelle wären, würden sie sich aus so verhalten. genau dieses stimmt eben nicht. dafür habe ich schon zu viel erlebt und erfahren. jede gesellschaft, selbst die gierigste wird früher oder später an ihrem egoismus scheitern.

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      • Konstantin Hilscher schreibt:

        Das Bildungsverlangen ist also nur getarnte materielle Gier? Wer den „Faust“ auswendig lernt, möchte nicht die große und die kleine Welt besser verstehen, sondern sie besser würgen, wringen und ausbeuten können? Das Abitur ist eine Lizenz zur Egozentrik? „Enrichissez-vous!“ ist der heimliche Slogan der verschworenen Betrügergemeinschaft Scharnebecker Gymnasiastinnen und Lüneburger Gymnasiasten?

        Und nur, wer sich dem allen bewusst verweigert, wie Sie, Herr Bruns, der zeigt soziales Fingerspitzengefühl, wenn er am Kranken Heinrich steht und von der Überlegenheitswarte illusionsloser Lebenserfahrung herab jungen Menschen den baldigen Untergang des Abendlandes prophezeit?

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  17. I believe. In god we trust. I believe.
    “ One Dollar Note “

    Fünf W-Fragen, ein Ziel, eine Abdankung.

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    • Otto Berg schreibt:

      Polemik macht die substanzlos wabernde Klageschrift auch nicht inhaltsreicher.

      Kein Gemeinwesen kann ohne ein Mindestmaß an gemeinsamen Grundsätzen leben. „Bildung“ ist nicht das Ergebnis, sondern die Aufgabe, jenes Mindestmaß an Gemeinsamkeit zu vermitteln, kulturelles Erbe weiterzugeben und gemeinsame Geschichte und gemeinsame Grundüberzeugungen lebendig zu halten. Bildung muss man erwerben, um sie zu besitzen. Jeden Tag.

      Sie darf sich nicht in unkritischer Kritikwonne („kreativ und innovativ“) aus dieser Aufgabe davonstehlen, aber sie kann diese Aufgabe natürlich auch nicht erfüllen, wenn in Politik und Gesellschaft das Zerbrechen der Gemeinsamkeit praktiziert oder „vorgelebt“ wird. „Wer sich selbst grün macht, den fressen die Ziegen“, lautete 1828 ein Lieblingssatz von Goethe. Auf uns gewendet: Wem das aufbegehrende Ich mit seinen wolkig wabernden Bedürfnissen nach „Regelbrecherei“ den Sensus communis, den Bürgersinn ersetzt, wird auch als Ich gefressen werden. Wenn wir im Ungefähren, im „Modernen“ oder „ganz Anderen“ die ideale Ordnung suchen („irgendwie oder so“), werden wir in der Unordnung landen! Abverlangt ist uns nicht die „disruptive“ Schule, sondern jeweils die erreichbare, bessere Lösung. Die Instrumente dafür, die Einsicht in sie kann Bildung vermitteln; sie kann es mit verschiedenen Stoffen, in verschiedenen Systemen, sie braucht dazu unverwechselbar Menschen, die sich diese Einsichten anverwandeln.

      „Die Wahrheit ist konkret“. (Satz, auf einem Dachbalken von Berthold Brechts Arbeitszimmer in seinem dänischen Exilort Svendborg)

      „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. (Aus der Dankrede von Ingeborg Bachmann bei der Entgegennahme des „Hörspielpreises der Kriegsblinden“ am 17. März 1959 im Bundeshaus in Bonn, heute ihre Grabinschrift auf dem Friedhof Klagenfurt-Annabichl.)

      Werdet konkret!

      „Digitalisierung“ zu rufen, genügt nicht.

      „Sehr geehrte Damen und Herren, gerne würde ich mich Ihnen genauer vorstellen, nur weiß ich nicht, wer ich eigentlich wirklich bin“?

      Sieh, ich bin nicht, aber wenn ich wäre,
      wäre ich die Mitte im Gedicht;
      das Genaue, dem das ungefähre
      ungefühlte Leben widerspricht. (Rainer Maria Rilke, 7. Oktober 1914, München)

      Genauigkeit ist immer ein guter Anfang!

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      • jj schreibt:

        Da wagen Schülerinnen mal, gegen den Strich zu bürsten, und dann kommt Herr Berg. Mich erinnert das an einen Ausspruch, der Bundespräsident Lübke angedichtet wurde: Wir wollen keine intelligenten Kinder, wir wollen brave Kinder.
        Das sind Schülerinnen, Herr Berg. Lg jj

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      • Otto Berg schreibt:

        Es sind sehr kluge Schülerinnen, Herr Jenckel!

        Ich möchte sie dahinein provozieren, dass sie KLAR und DEUTLICH aussprechen, was sie KONKRET und IM EINZELNEN wollen. (Kleinere Klassen mit höchstens zehn Schüler*inne*n, mehr Zeit für die Lektüre von Diogenes, Dante und Dostojewski, Free Dope im Kunstunterricht ab sechzehn, Chinesisch und Indisch als Wahlpflichtangebote, durchgängig entweder englisch-, spanisch- oder französischsprachigen Unterricht in den MINT-Fächern, ein bezahltes Auslandsjahr für jeden Schüler, von Kreis und Land finanzierte Theaterabos für alle Lüneburger Schüler*innen, eine kritische Auseinandersetzung mit dem galoppierenden Wahnsinn „digitalisierter Schulen“: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/hirnforscher-wolf-singer-ueber-lesen-und-digitalisierung-15833090.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 et cetera pp.)

        Der Brieftext oben könnte auch aus den PR-Abteilungen von professionellen Phrasendreschern wie Sascha Spoun oder Bernd Althusmann stammen.

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  18. Andreas Janowitz schreibt:

    Eine mutige Stellungnahme, der Zuspitzung wegen allerdings öfters gar zu übertrieben.

    Die deutsche Dezentralisierung ist ein Erbe des dritten Reiches, somit ist sowohl die Polizei als auch das Bildungswesen bewusst derart ausgestaltet. Zufällig wird beispielsweise in Polen,Ungarn und auch Japan gerade das zentralistische Bildungssystem für politische Einflussnahme missbraucht? Insofern sind die „208 Jahre“ ein wenig, naja…

    Es ist obendrauf Sinn und Zweck der allgemeinen Schulpflicht ein einheitliches Grundniveau zu stellen? Oder irre ich mich?

    Wenn ich mich an meine Oberstufenzeit erinnere, so hat der „alte Drachen“ uns jede zweite Stunde mit ausgiebigen Vokabeltests getrietzt, deren Wert man erst im Nachhinein erkennt. Nicht alles „lästige“, stumpf repitative ist völlig nutzlos. Einiges hilft durchaus ein Netz zu knüpfen, in dem sich andere Details verfangen? Und ja auch ich habe mir „privat“ wichtige Dinge angeeignet und vermisste es den „Lerntypen“ in der Schule zu finden?

    Mit der LEO-App haben andere Schüler schon einem gravierenden Organisationsproblem eine exzellente Lösung angetragen? Die Lehrer entlasten kann? Denn das Finanzierungsproblem wird angesichts der expansiven Rüstungsausgaben eher noch verschärft? Somit wäre eine effizientere Verwendung der Mittel ein gangbarer Weg? Dabei ist Zentralisierung nicht unbedingt notwendig.
    Es gilt eher, wie überall, den Einfluss von Lobbyisten zu begrenzen, bzw. zurrückzudrängen?
    Und natürlich die Milliarden geraubter Cum-Ex Steuern einzutreiben? Die könnten ein wenig Luft verschaffen?

    Natürlich begrüsse und unterstütze die Forderung vergleichbare Programme in den Unterricht einzubinden:

    http://www.seaorbiter.com/education-communication/

    https://www.esa.int/Education/ISS_Education_Kit_-_Primary

    was allerdings ebenso ohne Zentralisierung möglich wäre?

    Ein erster Kostenneutraler erster Schritt wäre, die Dienstleistung des Lehrpersonals, genau wie die der Kranklenpfleger, anzuerkennen und realistischer darzustellen? Beide haben erheblich unter dem Spardiktat gelitten und werden nur durch immensen persönlichen Einsatz gesichert. Man könnte, um in diese Kerbe zu schlagen, den Lehrer des SLG-Aachen durchaus in der lokalen Presse lobend erwähnen? Nicht nur um den Blick über den Landespolitischen Tellerrand zu wagen, sondern um Anstrengungen anderswo zu verdeutlichen. Sie sind nicht alleine und es passiert schon etwas. Somit ist „Bildung bedarf breiterer Wertschätzung aus anderen Teilen der Gesellschaft“ eine weitere Forderung der ich mich anschlösse.

    Ein mutiger Schritt von den Schülern soetwas zu wagen, denn wer nicht wagt der nicht gewinnt. Wenn auch ersteinmal nur Zustimmung…

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    • Simone Kästner schreibt:

      Hallo Herr Janowitz,

      braucht Deutschland einen neuen Bildungsstaatsvertrag? Drei Ehemalige Mitglieder der Kultusministerkonferenz forderten im Januar dieses Jahres ebenfalls grundlegende Reformen im deutschen Bildungssystem. Deren „öffentlicher Brief“ weicht in einigen gravierenden Hinsichten von dem der Schülerinnen aus dem Bernhard-Riemann-Gymnasiums in Scharnebeck ab. Vor allem aber darin, dass die drei Herren – im Unterschied zu Jana Bobrowska, Philine Ahlf, Lena Bickel und Antonia Kiesecker – ihre Forderungen auch begründen. Haben Sie zu dieser Variante einschneidender Reformbestrebungen auch etwas zu sagen? Sie ist, wie mir scheint, etwas durchdachter, mehr um Argumente und inhaltliche Konsistenz (= Widerspruchsfreiheit) als um öffentliche Aufmerksamkeit für ein Thema bemüht, das wie kein zweites seit etwas mehr als vierzig Jahren in der ganzen Republik andauernd, intensiv und vor allem öffentlich debattiert wird. Hier kommt der Vorschlag im Wortlaut:

      In Deutschland zählt bei den Durchschnittsnoten im Abitur jede Stelle hinter dem Komma. Denn zahlreiche Studiengänge unterliegen dem Numerus clausus. Die Zensuren junger Menschen werden also bundesweit verglichen. Streng genommen sind sie aber gar nicht vergleichbar. 16 Bundesländer haben 16 zum Teil sehr unterschiedliche Prüfungsordnungen. Wer in einem Land ein Einser-Abitur erreicht, wäre in einem anderen möglicherweise zur Abiturprüfung noch nicht einmal zugelassen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in seinem Urteil zur Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin vom 19. Dezember 2017 ein „länderübergreifendes Vergleichbarkeitsdefizit der Abiturnoten“ festgestellt. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit sehen anders aus.

      Chancengleichheit ist auch nicht beim Übergang in weiterführende Schulen gesichert: Wer in dem einen Land den Weg zum Abitur über das Gymnasium beschreiten darf, dem wird er woanders möglicherweise verwehrt. Gleiches gilt für die Wahl einer allgemeinbildenden Schule für ein beeinträchtigtes Kind – Stichwort Inklusion. Bildungschancen sind in Deutschland ungleich verteilt.

      Deshalb findet der Bildungsföderalismus in weiten Teilen der Gesellschaft kaum Akzeptanz. Denn unterschiedliche Schulgesetze und Rahmenbedingungen, insbesondere unterschiedliche Anforderungen an Schülerleistungen führen zu fehlender Vergleichbarkeit. Fehlende Vergleichbarkeit führt zu einem unfairen Wettbewerb, der immer ein Wettbewerb um Lebenschancen ist. Oft entscheidet nicht die Leistung, sondern die regionale Herkunft. Regionale Disparitäten verschärfen die ohnehin schon zu große Bildungsungleichheit in unserem Schulsystem.

      Befürworter eines Bildungszentralismus fordern lautstark: Gebt dem Bund die Zuständigkeit für die Bildung, und es herrschen einheitliche Verhältnisse überall im Land. Aber besteht die Lösung wirklich darin, föderal gegen zentral auszuspielen? Natürlich wäre mehr Einheitlichkeit möglich, wenn die Zuständigkeit für die schulische Bildung allein beim Bund läge. Aber das sichert nicht die Qualität. Der internationale Vergleich mit zentral gesteuerten Bildungssystemen belegt: Es gibt wenig Gründe für den Optimismus, den die Befürworter einer Bundeskompetenz für die schulische Bildung entwickeln. Wir brauchen beides: einheitliche Maßstäbe und Qualität.

      Föderalismus beruht auf und fördert Vielfalt und Wettbewerb. Von anderen lernen, um noch besser zu werden – darin liegt seine Chance. Sind die Verhältnisse jedoch nicht vergleichbar, hat Wettbewerb keinen Sinn.

      Die ländergemeinsame Entwicklung von Bildungsstandards und die Vereinbarung, das Erreichen der Standards kontinuierlich zu überprüfen, waren richtige und wichtige Schritte für eine Verbesserung und eine bessere Vergleichbarkeit der Bildung in Deutschland. Aber der Bildungsföderalismus muss stärker als bisher die Gleichwertigkeit der Bildungsverhältnisse in Deutschland in den Blick nehmen.

      Angesichts seiner Defizite an Transparenz und Effizienz und zum Teil nicht eindeutiger Verantwortlichkeiten gab es gute Gründe für die Föderalismusreform von 2006, den kooperativen Föderalismus in der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern abzuschaffen und die Kompetenzen im Bildungsbereich neu zu ordnen.
      Heute, mehr als zehn Jahre später, geht es darum, den seinerzeit eingeführten wettbewerbsorientierten Bildungsföderalismus weiterzuentwickeln durch eine verbindlichere Kooperation der Länder untereinander. Bildungsgerechtigkeit, Vergleichbarkeit und Qualität sind ohne ein gewisses Maß an Einheitlichkeit nicht möglich. Die Spannung von Vielfalt und Einheitlichkeit neu auszubalancieren, ist Kernaufgabe der Bildungspolitik. So viel Vielfalt wie möglich, so viel Einheitlichkeit wie nötig – darum geht es.

      Wir brauchen stabile, verlässliche Rahmenbedingungen für die schulische Bildung, die in allen Ländern gleich sind. Das geeignete Instrument dafür ist ein neuer Bildungsstaatsvertrag, der – von Regierungen und Landesparlamenten beschlossen und demokratisch legitimiert – verbindliche, überall in Deutschland geltende Regelungen gewährleistet.

      Diese sind vordringlich für

      ● den Beginn und die Dauer der Schulpflicht,

      ● die Dauer der Bildungsgänge, insbesondere für G8 und G9,

      ● den Übergang in die Sekundarstufe I bzw. Sekundarstufe II,

      ● die Zulassung zur Abiturprüfung – zum Beispiel zur Belegung von Kursen, zur Einbringung und Gewichtung von Kursergebnissen,

      ● eine zentrale Abiturprüfung mit einem deutschlandweit identischen Kern von Aufgaben in den Fächern Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache,

      ● eine ländergemeinsame Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention,

      ● eine einheitliche Zuordnung der verschiedenen Lehrämter zu Besoldungsstufen; eine länderübergreifend vergleichbare Besoldung von Lehrkräften,

      ● eine einheitliche Ausgestaltung beider Phasen der Lehrerausbildung (Stichwort: „Masterplan Lehramtsstudium“), Festlegung der Kerninhalte der Ausbildung und der Ausbildungsdauer beider Phasen.

      Mittelfristig sind die Bildungsstandards weiterzuentwickeln. Angesichts der demografischen Entwicklung und des Trends zu höheren Abschlüssen ist zu prüfen, ob es in 16 Ländern wirklich weiterhin 17 verschiedener Schulformen in der Sekundarstufe I bedarf, ob gleiche Schulformen nicht zumindest gleich benannt werden sollten, vor allem aber, ob die Entwicklung zu einem zweigliedrigen Schulsystem mit dem Gymnasium und einer integrativen Schulform Vorbild für alle Länder sein könnte. Auch müsste eine belastbare Lehrkräftebedarfsplanung auf der Grundlage jährlich aktualisierter Schülerprognosen vorgenommen werden und darauf aufbauend eine länderübergreifende Kapazitätsplanung für die Lehrerausbildung.
      Statut für die KMK weiterentwickeln

      Das entscheidende Instrument zur Selbstkoordinierung der Länder in der Bildungspolitik ist die Kultusministerkonferenz. 70 Jahre nach ihrer Gründung muss die KMK mit einem neuen Bildungsstaatsvertrag deutlich gestärkt und als schlagkräftiges politisches Gremium weiterentwickelt werden. Die Länder müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen für die Qualität, Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Mobilität im deutschen Bildungssystem und damit zugleich für die grundgesetzlich geforderte „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland“ (Art. 72 Abs. 2 GG).

      Die verbindliche politische Abstimmung auf Ministerebene sowie die gemeinsame inhaltliche Gestaltung und Weiterentwicklung des deutschen Bildungssystems müssen verstärkt zu Entscheidungen führen, die mehr als eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner sind. Dazu sind die bisherigen Regelungen und die Praxis der KMK (z. B. einjährige Präsidentschaft, Einstimmigkeitsprinzip, Sitzungsfrequenz) zu überprüfen und ggf. im Bildungsstaatsvertrag zu ändern.

      Um dies zu unterstützen, ist eine Überprüfung von Aufbau, personeller und sachlicher Ausstattung und Arbeitsweise des Sekretariats der KMK angezeigt.

      Mehr Kooperation erfordert neue Formate der Kooperation und verstärkten inhaltlichen Erfahrungsaustausch zu wesentlichen Themen von Schul- und Unterrichtsentwicklung (z. B. Inklusion, Sprachförderung und Integration, Schulevaluation, Fortbildung), um bildungspolitische Herausforderungen frühzeitig erkennen und bewältigen zu können.
      Plädoyer

      Deutschland braucht einen Bildungsstaatsvertrag, der die für einen einheitlichen Bildungsraum notwendigen Rahmenbedingungen schulischer Bildung festlegt und ein weiterentwickeltes Statut für die KMK enthält. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder sollten dazu eine kleine, leistungsfähige Arbeitsgruppe aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft einsetzen, die zügig konkrete Eckpunkte und Empfehlungen für den neuen Bildungsstaatsvertrag vorlegt. Der Vertrag sollte im Jahr 2019 geschlossen werden.

      Berlin, den 5. Januar 2018

      Burkhard Jungkamp (Staatssekretär a. D.), Dr. Josef Lange (Staatssekretär a. D.), Dr. Michael Voges (Staatsrat a. D.)

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      • Andreas Janowitz schreibt:

        Heidenei… ja Fr. Kästner dazu erdreiste ich mir ,wenn auch weniger wortgewaltig, eine Meinung.
        Man kann Bildung nicht testen?
        Das haben die USA mit ihren ausziselierten SAT Testprogrammen eindeutig bewiesen? Trotz intensivster Bemühungen stellen US Schüler nicht im entferntesten die Spitzengruppe. Genausowenig sind Südkorea`s Kinder aufgrund des brutalen Drills allesamt Supergenies? An der Kernthese krankt dieses Papier und führt sich somit selbst ad absurdum. Das ergibt sich für mich aus:“… einheitliche Maßstäbe und Qualität…“

        Alles was man mit standartisierten Tests usw. schafft ist eine nutzlose Überprüfungsbürokratie und die Illusion von Wissen, welche nach dem jüngst verstorbenen Herrn Hawkings an sich eine Gefahr darstellt. Die Kinder werden getestet, ob sie die Tests gut bestehen und nicht ob sie auch begriffen haben worum es dabei überhaupt geht?
        Dummerweise stellt es sich nämlich erst im Nachhinein herraus, ob die Blagen halbwegs geraten, oder alles nur taube Nüsse mit der Spezialität „Wiederkäuen“ sind.

        Natürlich gibt es Übungen, die Begünstigen, was aber nicht heisst, dass das Produkt aus Aufwand und Zeit bei jedem gleich ist. Ich glaube es wäre viel wichtiger herraus zu finden: welcher Lerntyp ist das Kind? Nirgends erwähnt, nichtmal in einem Halbsatz. Das fördert die intrinsische Motivation, ganz sicher nicht öde Tests, deren Sinn sich für den Anwender erst Jahre später erschlösse, die aber hier und jetzt über das gesamte Leben entscheiden.

        Der NC ghört generell abgeschafft und anstelle dessen an jeder Uni Zulassungsprüfungen. Die Abinoten interessieren im späteren Leben sowieso keine Sau?! Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich nach der Abinote gefragt wurde.
        Damit würde nämlich automatisch der Abistandart steigen, weil nicht jeder ein 15 Punkte Kandidat ist (Punkt!), schon gar nicht aus Gefälligkeit oder Schulprestige!?

        Sie entschuldigen, aber das unbedarfte:“… Bildung eröffnet Perspektiven. Bildung verändert Menschen. Bildung prägt Kulturen. Bildung ist nicht nur einfach nur wichtig, sondern essenziell. Das merkt man in der Schule für gewöhnlich nur nicht…“ ist weniger verkopft und noch voller Ideale. Es waren doch einmal Ideale die antrieben, oder?

        Nicht das stumpfe :“ Was ist machbar.“ in der ein wenig zu durchdachten Version der drei Herren Staatssekretäre.
        Das soll kein völliger Verriss sein, die Herren machen meines Erachtens einige sehr sinnvolle Vorschläge, insbesondere was die Schulformen betrifft.

        Was Lehrerausbildung und Besoldung angeht, mögen die drei sicher richtig liegen, da bin ich dann mit meinem Latein sprichwörtlich am Ende.

        Mir graut vor dieser sinnlosen Standarttestorgie, die in der ständig hervorgehobenen Fehlenden Vergleichbarkeit durchschimmert. Anderswo gibt es eine ganze Industrie, die Kinder in „Nachhilfe“stunden auf Tests drillt. Totes Kapital wie ich glaube.

        Noch viel weniger habe ich lust darauf, die Ergebnisse dieser Wissensillusion in ein paar Jahren vorgesetzt zu bekommen. Mir waren die totalversagenden Ja-sager auf der Uni schon Graus genug. Was da für Pfeifen rumgelaufen sind, nur weil Papi es sich leisten konnte die Blage für ein paar Jahre auszulagern. Und das war vor 20 Jahren. Die tragen jetzt „Verantwortung“…

        Ich möchte Sie abschliessend fragen woher die drei denn wissen sollen, was da en detail im Argen liegt? Die haben den Slapstick des Lebens doch noch gar nicht erfahren?
        Mit Glück (oder Pech) haben die drei gerade die letzten fünf Jahre dieser grotesken Parodie mitgeschnitten?

        PS: Ich finde es übrigens herzallerliebst, wie Sie sich bemüssigt fühlten mir „Konsistenz“ zu übersetzen, „Disparitäten“, das Akronym „KMK“ und „-evaluation“ im Text dann aber nicht.

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  19. Otto Berg schreibt:

    „Ihr scheitert daran, kreativ und innovativ die gedanklichen Regeln zu brechen – weil ihr das schlicht nie geübt habt“?

    Wie werden gedankliche Regeln „kreativ und innovativ“ gebrochen?

    Warum sollten gedankliche Regeln „kreativ und innovativ“ gebrochen werden?

    Was heißt überhaupt „kreativ und innovativ“?

    Sollte sich, wer gedankliche Regeln „kreativ und innovativ“ zu brechen wünscht, nicht, bevor sie/er sich daran macht, darüber Rechenschaft geben, ob überhaupt Gedanken bei ihren/seinen Regeln sind? … ob sie/er nicht vielleicht bloß Worte für Gedanken hält, ohne sich vergewissert zu haben, dass in solchen Klanghülsen auch ein Inhalt steckt und gefunden werden kann? Wem soll frau/man abnehmen, dass euer sperriges, obgleich gedrechseltes und blankpoliertes Stück Textholz, dass mit hohltönendem Phrasenlametta und ausgeschlonzten Imponierfloskeln behängt ist, aber nicht mit EINER konkret greifbaren Beschwerde aufwartet, von Schülerinnen und Schülern der zwölften Klasse eines Scharnebecker Gymnasiums ausgesponnen und geschrieben worden ist?

    Damit eine*r gedankliche Regeln „kreativ und innovativ“ brechen kann, muss sie/er zuvor gelernt haben, welche einzuhalten.

    Meine Meinung!

    „Zu vollenden ist nicht die Sache des Schülers, es ist genug, wenn er sich übt.“

    Goethes Meinung!

    (Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/6. 1. Buch, 10. Kap., Wilhelm zu Werner)

    „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“

    Isso!

    Auch, wenn’s bloß in der Bibel (pred 3,1) steht.

    Lernt zu verstehen, was euch aufgeschwatzt werden soll! Versucht zu begreifen, wer euch aus welchem Grund vor welchen Karren spannen möchte. Benutzt ausschließlich immer nur solche Vokabeln, mit denen ihr einen genauen Sinn verbindet! DAS ist der erste Schritt auf dem Weg zur eigenständigen Entscheidung über das Einhalten oder „das Brechen“ gedanklicher Regeln. „Bildung“ hat etwas mit dem methodischen Akkumulieren von relevantem Wissen zu tun und mit der nach und nach ausgebildeten (durch Üben, Fleiß und Beharrlichkeit erarbeiteten) Fertigkeit, das Relevante vom Irrelevanten zu trennen und mit ersterem „angemessen“ umzugehen.

    „Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur Tat, noch die Gewandtheit zur Tat geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vielteiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muß, damit irgend etwas aus einer Vorstellung sich in Aktion verwandeln könne. Vor allem und zuerst die Werke! Das heißt Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige ‚Glaube‘ wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert!“

    Friedrich Nietzsche, Morgenröthe

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