Der Michaelisfriedhof ist mehr als einen Spaziergang wert, er ist Lüneburger Geschichte und traurige und düstere deutsche Geschichte zugleich.
Lüneburg, 19. August 2021
Sie möchten in dieser hitzigen Wahlkampfzeit in Lüneburg einen Spaziergang wagen, ohne ständig aufgeschreckt zu werden von Konterfeis Photoshop-gepimpter Kandidaten (m/w/d), die nun an jedem Laternenmast lauern? Ich empfehle den Michaelisfriedhof als Zuflucht.
Er ist Lüneburgs ältester und schönster Gottesacker. Tabuzone. Da ist keine Stimme mehr zu holen. Von der schattigen Linden-Allee in der Mitte lohnen die Abstecher über den gut fünf Hektar großen Friedhofspark. Hier sind Stadtgeschichte und deutsche Geschichte zu entdecken. Glanz und Elend – Grabstein an Grabstein.

Die klassizistische Kapelle am Eingang des Friedhofs, Schinkel würde sich bei soviel Schlichtheit freuen.
Am Eingang stimmt Sie gleich eine klassizistische Begräbnishalle ein, die Karl Friedrich Schinkel, dem Star des Stils, gefallen würde. Und dahinter liegt sie, die Lüneburger Geschichte.
Zum Glanz gehört der Gedenkstein der großen Opernsängerin Charlotte Huhn. Die Karriere der Lüneburgerin führt bis in die „Met“, die Metropolitan Opera in New York.
Hinter der Kapelle liegen auch gleich Persönlichkeiten wie der Stadtarchivar Wilhelm Friedrich Volger. In guter Nachbarschaft liegt Urban Friedrich Christoph Manecke, Zöllner zu Lüneburg. Er steht neben Volger in der Reihe der ganz großen Sammler und Geschichtsschreiber der Salzstadt.
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Und es darf kein General fehlen. Dessen schlichtes Kreuz lehnt gusseisern an der Friedhofsmauer. Darauf steht Willjam von Ludowig. Der Generalleutnant wird kurz vor der Französischen Revolution geboren, er sieht Napoleon aufsteigen und besiegelt dessen Ende militärisch mit, erlebt die deutschen Revolten 1830 und 1848, den sogenannten Vormärz, und stirbt mit 83 Jahren in Lüneburg. Unweit, hart an der Allee, liegt Stadtkommandant Anton Ernst von Lösecke. Für Preußen steht der Königlich Geheime Rat Julius Alexander Wilhelm Rasch.
Rechterhand am Hang findet sich die verblichene Unternehmer-Upper-class der Hansestadt: das Gewölbegrab der Weinhändler Frederich, der Ehrenbürger, Senator und Fabrikant Johannes Reichenbach oder die Auto-Dynastie Havemann.

Unbekannt, steht auf dem Grabstein eines der Opfer der Bombenangriffe auf Lüneburg in den letzten Kriegstagen. In den Reihen liegen aber auch KZ-Häftlinge, Verschleppte und Deportierte, die den Krieg entkräftet kaum überlebt haben.
Das Elend, die deutsche Schuld, findet sich in den Gräberreihen hin zur Schomackerstraße und zur Lauensteinstraße. Dort liegen Opfer der NS-Diktatur, jüdische KZ-Häftlinge, von Deutschen Verschleppte und Deportierte aus Osteuropa, wohl auch „Displaced Person“, die in einem der Lüneburger Not-Lazarette, meist Schulen, den Krieg überleben, aber kaum das Kriegsende. Auf mancher Steinplatte steht nur „Unbekannt“.
Die meisten Grabsteine dort aber erzählen von den beiden Bombenangriffen auf Lüneburg kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges. Und dann liegen in diesen Reihen Wehrmachtssoldaten und SS-Angehörige. Mehr Kontrast geht nicht.

Rund 2000 Zwangsarbeiter mussten in der NS-Zeit in Lüneburger Unternehmen schufften, beim Bombenangriff auf Lüneburg am 22. Februar starben sieben. Auch sie liegen auf dem Michaelisfriedhof.
Auf dem Friedhof trauert eine der bekanntesten deutschen Adelsfamilien um zwei Söhne, die im Russlandfeldzug in Litauen und vor St. Petersburg 1941 fielen. „Sie starben für Deutschland“ steht da. Leider starben sie für den grausamsten Diktator, der das größte Leid und immerwährende Schuld über das Land brachte. Aber vermutlich ist das für diese wie andere Familien, die damals Söhne im Krieg verloren, der einzige Weg, Sinn in Sinnlosigkeit zu pressen. So wie die Unternehmer-Familie, die den einzigen Sohn, einen Gerichtsassessor, zu Beginn des Ersten Weltkrieges in Ypern verliert und ein heroisches Versmaß in den Stein meißeln lässt.

Das Grabmal für Pastor Hübner, in Dankbarkeit zu wilhelminischer Zeit aufgestellt, fällt wilhelminisch groß aus.
Michaelis hat seine Reize in den Gegensätzen. Schlichte neue Gräber, vergessene, verfallene und uralte Gräber, dann wieder geradezu Pompöses wie das für den Pastor Hübner. Soviel Aufsehen wird dem Gottesmann vielleicht gar nicht so recht sein, wie ihm seine Gemeinde und Freunde zukommen lassen für die Ewigkeit. Aber das Grab stammt aus wilhelminischer Zeit. Da zählte Größe.
Zum Ochtmisser Kirchsteig hin geht es abwärts, da treibt der Senkungsteufel sein Unwesen. In den letzten Jahren hat der Boden auf einem Teilstück des Friedhofs arg nachgelassen. Was da im Untergrund passiert, das ist am besten an zwei angrenzenden Häusern auszumachen, die geradezu im Boden versinken, als trieben sie, von einem Torpedo getroffen, auf rauer See.
Am Ende bleibt zu hoffen, dass der Michaelisfriedhof von der Kreisel-Gräber-Mode weitgehend verschont bleibt. Bei den Kreiseln liegen die kleinen Steinplatten der Urnengräber im Grün rund um einen Baum. Das ist im Vergleich günstig. Auf dem Waldfriedhof, auch sehr schön, kreiselt es schon mächtig. Erst fand ich es schön, auflockernd und elegant. Aber in Serie wirkt es eher wie eine Marotte. Aber auch das verdichtet sich einmal zu Geschichte: Wie gehen wir mit der Erinnerung um, dem letzten Paradies?
Hans-Herbert Jenckel
Was uns in den nächsten Monaten und Jahren bevorsteht…
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Wie der Falk-Verlag (1945–2012)* am Morgen bekannt gab, ist nicht der „Friedhofspark“, sondern „das Internet“ zum Jugendort des Jahres 2021 gewählt worden. Aus der Begründung der Jury:
Viele Jugendliche treffen sich heute nicht mehr an der Tischtennisplatte hinter dem Gewölbegrab der Weinhändler Frederich oder im Glockenhof vor der Lunasäule von Erich Brüggemann zum „schwofen“, „labern“ oder „swaggen“, sondern im digitalen Raum, im sog. Internet (deutsch: Zwischennetz). Dort schicken sie digitale SMS hin und her, teilen „Mehms“ oder bestellen Maschinengewehre. Heiligenthaler Pädagogen warnen folglich vor einem gesetzlosen Tummelplatz, auf dem sich Teens zu unkontrollierbaren Rabauken entwickeln könnten, und empfehlen eine sofortige Abschaltung des Internets. Die Wahl zum Jugendort des Jahres soll weder die Kritik am Internet unterstützen noch hemmungslose Begeisterung für die neue Technik ausdrücken. Die Jury möchte zur Diskussion anregen – im Internet, aber auch ganz klassisch „offline“ (im Wirtshaus).
* Der Verlag Falk steht in keiner Verbindung mit der Falk eSolutions AG, einem Tochterunternehmen von DoubleClick (Google).
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»Sagt! wie könnten wir das Wahre,
Denn es ist uns ungelegen,
Niederlegen auf die Bahre,
Daß es nie sich möchte regen?«
Diese Mühe wird nicht groß sein
Kultivierten deutschen Orten;
Wollt ihr es auf ewig los sein,
So erstickt es nur mit Worten.
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Geschmacklos ist Politik. An diesem Orte herrscht Klarheit.
„Dem Auge fern, dem Herzen nah“.
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den friedhof als erholungsgebiet vor der politik zu empfehlen , ist sehr mutig. man kann natürlich auch sagen: es ist geschmackslos. schmunzeln.
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