
Melbeck, 25. April 2023
Ein Foto der Melbecker Wassermühle ist wie ein Ticket für eine Zeitreise zurück in meine Kindheit. Ich rieche Weizen und Mehl, Müller schieben auf Sackkarren Säcke, die Männer sehen aus, als wären sie mit Puderzucker überzogen. Der Lärm der Mahlwerke ist ohrenbetäubend. Die Mühle war mein Lieblingsspielplatz. Vor allem den handbetriebenen Fahrstuhl liebte ich. Wenn Müller Wilhelm Kruse die Kornsäcke von Etage zu Etage fuhr, war ich als Passagier an Bord. Und jedesmal, wenn es abwärts ging, stellte sich dieses lustvolle Kribbeln und Ziehen in meinem Bauch ein.
Die Mühle, Urzelle des Dorfes Melbeck, steht zum Verkauf, bei einem Preis von rund 900.000 Euro (ohne Makler-Courtage) sind Betuchte mit Sinn für Romantik und Geschichte gefragt.

Anders, als es die Verkaufstafel der Makler an der Ebstorfer Landstraße suggeriert, ist die Mühle nicht aus dem Jahr 1265. In dem Jahr wurde sie erstmal in einer Urkunde erwähnt, weil sei vom Ritter Hune von Oehme (es gibt verschiedene Schreibweisen) an Frederik Herr in Melbecke überging. Sie sei wohl, so sagte es mir einst Geschichtskenner Klaus von Estorff, als Mühle schon Mitte des 12. Jahrhunderts existent gewesen. Das heutige Aussehen bekam sie aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts und dann noch einmal Anfang des 20. Jahrhunderts.

Über die Jahrhunderte wechselte die Mühle öfter den Eigentümer wie ihr Aussehen. Das Kloster St. Michaelis war lange „Obereigentümer“, mein Vater erbte die Mühle letztlich von Wilhelm Hammer. Deswegen hieß sie auch immer Hammer-Mühle. Zur Mühle gehörte auch ein Bauernhof mit einem stattlichen Haus. Wilhelm Hammer lenkte zu seiner Zeit mit den Bauern die Geschicke des Dorfes. Und er hatte seine Eigenheiten.

Vom Ortsrat ist überliefert, dass er in Ratssitzungen im Gasthaus Scherer gerne eine Runde für Zuhöhrer schmiss, aber den Bauern am Ratstisch beschied: „Ich könnt selber zahlen.“ Er ließ sich auch ab und an eine Kutsche aus Lüneburg kommen, um von der Mühle zum Gasthaus gefahren zu werden. Dann ließ er sich Sekt reichen. In Melbeck!
Und früher sah es um die Mühle herum doch anders aus. Zur Mühle gehörte ein Jahrhunderte altes Staurecht, mit dem der Melbecker Bach gestaut werden durfte. Das Wasser floss in einen künstlichen Mühlenteich. War er voll, drückte das Wasser durch ein Wehr auf das Mühlrad. Der Teich, groß wie ein Sportplatz, war zugleich Karpfenteich und das Zuhause Melbecker Jungs, die sich „Sturmvögel“ nannten.
Wir besaßen ein großes Boot, Flöße und eine Hütte mit Holzofen auf dem weitläufigen Hofgelände. Im Sommer wurde zu Wasser gekapert, im Winter, wenn das Eis meinen Vater trug, damals weit mehr als ein Zentner schwer, war der Weiher ein Eishockey-Paradies. Höhepunkt war dann ein Spiel gegen die Embsener. Da lebten wir die Konkurrenz der Dörfer auf dem Eis knüppelhart aus. Das Staurecht wurde später verkauft und der künstliche Teich zu einem sumpfigen Biotop.

Mein Vater, nach einem kurzen Intermezzo der Witwe Hammer, 1937 der Nachfolger, war zwar Müllermeister, aber erst im Krieg, schon 1942 geriet er in Afrika in Gefangenschaft, und erst weit nach dem Ende des Krieges kam er zurück nach Melbeck. Er war lieber Vorsitzender des TSV Melbeck, Brandmeister und Ratsherr, als Müller. Fußball, Räte, Kommandositzungen und Feiern, das hatten seinen Preis. Ende der 70er-Jahren war die Mühle nur noch eine Hülle, die Jahr um Jahr mehr bröckelte.
Für mich blieb sie ein Stück Kindheitserinnerung. Dazu gehört natürlich auch die Sirene ob auf dem Mühlendach. Bei Gefahr heulte sie auf und immer sonnabends um 12 Uhr. Dann erst war Feierabend für die Landarbeiter. Der Schalter für die Sirene befand sich auf der Veranda des Bauernhauses. Es war ein eine Verlockung, kurz mal an dem Drehschalter zu spielen, dann tönte die Sirene kurz tief wie ein knurrender Tiger. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Dass die Mühle heute so ein Idyll ist, hat die Nachwelt dem Maler Bernhard Oberhoffer zu verdanken, der unsere Familie über Jahre belagerte, um das marode Gebäude zu erwerben. Geblieben sind mir ein paar Devotionalien und vor allem der riesige Schlüssel für die große Mühlentür, der jedem Burgtor zur Ehre gereichen würde. Die Besonderheit, er ist schief und dreht falsch herum.



Daß alles vorübersterbe, / Ist alt und allbekannt; / Doch diese Wehmut, die herbe, / Hat niemand noch gebannt.
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„The past is a foreign country“, lieber Herr Jenckel, „they do things differently there.“
Wenn Sebastian Balmaceda das Anwesen für 921.773 Euro kaufen und es Ihnen samt 380 qm Wohnfläche für eine fixen Mietzins von monatlich 921 Euro während der kommenden 68 Jahre überlassen würde, würden Sie mit Ihrer Familie hinziehen oder wenigstens erwägen, es in dieser Zeit als Wochenenddomizil zu nutzen?
Und so zu spielen: Ball und Ring und Reifen
in einem Garten, welcher sanft verblasst,
und manchmal die Erwachsenen zu streifen,
blind und verwildert in des Haschens Hast,
:
Und stundenlang am großen grauen Teiche
mit einem kleinen Segelschiff zu knien;
es zu vergessen, weil noch andre, gleiche
und schönere Segel durch die Ringe ziehn,
und denken müssen an das kleine bleiche
Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien –:
O Kindheit, o entgleitende Vergleiche.
Wohin? Wohin?
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Mein kürzlich verstorbener Onkel führte meinen Counsin und mich durch die Innerreien der Abtsmühle. Aus den ledernen Laufbändern schnitzten wir uns seinerzeit vor Abbruch Gürtel. Ich habe meinen noch. Welche Andenken haben sie?
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Bücher, Schlüssel, Chronik, Fotos, Videos. Kurz, ich bin versorgt. lg jj
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Das wusste ich alles garnicht!
Klingt wunderbar, klingt nach einer Zeit, die es so wohl nicht mehr geben wird, schade..
Lieben Gruß Jan
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Nein, Melbeck hat keinen Bäcker mehr, keine Kneipe, die zugleich Nachrichten-Schaltzentrale war, und auch keine Mühle. Eine Wohnstatt mit Infrastruktur eben. Da sei du froh, dass du auf einer kleinen Insel im Feld wohnst. PS: Über die Kneipe, die meiner Tante gehörte, den Lindenhof, hatte ich auch mal geschrieben. Da schicke ich den Link. lg Hans-Herbert
https://blog-jj.com/2020/12/22/mauschis-universum/
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Ich könnte das immer und immer wieder lesen.
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div>So spannend, dicht dran und liebevoll!
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div dir=“ltr“>Sebastian Balmaceda
Ratsherr der Hansestadt Lüneburg
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div>
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Danke, Sebastian.
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